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«Rapt»: Die Wiedergeburt eines Schweizer Filmklassikers

Ein Mann und eine Frau auf einem Feld
"Rapt" war der erste Schweizer Avantgarde-Film, unter der Regie estnischen Autors Dimitri Kirsanoff. Cinémathèque Suisse

Das Entführungsdrama Rapt ist ein bahnbrechendes Schweizer Melodrama, das 1934 von einem im Russischen Reich geborenen Esten auf der Flucht vor der bolschewistischen Revolution gedreht wurde. Nun ist es nach sorgfältiger Restaurierung zu neuem Leben erweckt worden. Swissinfo sprach mit den Restauratorinnen über den Film, der zunächst ein kommerzieller Flop war – und aus heutiger Sicht als Meilenstein des Schweizer Kinos gilt.

Im Innenhof des Cinema Lumière in der Cineteca di Bologna treffen sich das ganze Jahr über Filmliebhaber:innen, Archivar:innen und Kritiker:innen, ganz besonders jedoch während des legendären italienischen Festivals «Il Cinema Ritrovato» für archivierte und restaurierte Filme.

Die Festivalbesuchenden versammeln sich zwischen den Vorführungen im Schatten einiger Bäume und aufgehängter Planen, um der sengenden Sonne zu entfliehen und sich eingehend über die filmischen Highlights des Tages auszutauschen.

In diesem Innenhof traf Swissinfo im Juni Caroline Fournier, Leiterin der Einheit Kulturerbe der Cinémathèque suisse, Julie le Gonidec, Digitalisierungsverantwortliche der Cinémathèque suisse, und Camille Blot-Wellens, selbständige Filmhistorikerin und -forscherin. Dies, um über ihre neue Restaurierung eines wichtigen Films der Schweizer Filmgeschichte zu sprechen, der am Festival gezeigt wird: Dimitri Kirsanoffs Rapt (1934).

Hier sehen Sie den Trailer des Films:

Externer Inhalt

Kirsanoffs erster und einziger Schweizer Film wurde bei seinem Erscheinen von einigen Kritikern gelobt, war kommerziell aber ein Flop und geriet danach in Vergessenheit, ehe er Jahrzehnte später in den 1970er- und 1980er-Jahren wiederentdeckt wurde.

Heute wird der Film für seine merkwürdige Mischung aus pastoralem Melodrama und offenem Surrealismus bewundert und zählt nach wie vor zu den am meisten unterschätzten Werken aus der Übergangszeit vom Stummfilm zum frühen Tonfilm.

Rache für einen Hund

Caroline Fournier
Als Leiterin der Abteilung Kulturerbe der Cinémathèque Suisse koordiniert Caroline Fournier Restaurierungsprojekte historischer Schweizer Filme. Cinémathèque suisse

Rapt (deutscher Titel: Frauenraub) setzt sich direkt mit den Widersprüchen der Schweizer Gesellschaft in der Vorkriegszeit auseinander: Ein Hirte aus einem abgelegenen französischsprachigen katholischen Dorf im Wallis entführt eine Frau aus einem deutschsprachigen protestantischen Berner Dorf, um seinen Hund zu rächen, der mit einem Stein erschlagen worden war.

«Wir wollten nicht einfach eine neue, technisch perfekte Restaurierung», erklärt Fournier im Gespräch mit Swissinfo am Tag vor der Vorführung. «Es sollte vielmehr ein Forschungsprojekt sein, das den Film wirklich kontextualisiert. Deshalb haben wir Camille Blot-Wellens engagiert, die mit ihrer Kompetenz verschiedene Versionen des Films aufgespürt und seine Geschichte recherchiert hat.»

Blot-Wellens fand unter anderem heraus, dass Rapt eine rein schweizerische Produktion ist – und keine französisch-schweizerische Produktion, wie lange Zeit beschrieben. «Wir wollten also nicht einfach den Film ins beste Licht rücken, sondern genau wissen, was wir restaurieren und warum», fügt Fournier hinzu.

Avantgarde-Kino aus der Vorkriegszeit

Der estnische Avantgarde-Filmemacher Kirsanoff identifizierte sich stark mit seiner Arbeit in Frankreich. Dass er diesen Meilenstein des frühen Tonfilms in der Schweiz inszenierte, zeigt, dass das Kino der Vorkriegszeit weniger stark einem starren Studiosystem verhaftet war, als man aufgrund historischer Klischees annehmen würde.

Dimitri Kirsanoff
Dimitri Kirsanoff auf einem Foto, das ungefähr zur Zeit der Dreharbeiten zu «Rapt» (Mitte der 1930er-Jahre) aufgenommen wurde. Cinémathèque suisse

Nachdem Marc David Sussmanovitch Kaplan 1921 nach der Ermordung seines Vaters durch die Bolschewiki nach Paris gezogen war, legte er sich den Künstlernamen Kirsanoff zu. Am bekanntesten ist er heute für den Film Ménilmontant (1926), ein 37-minütiges avantgardistisches Meisterwerk ohne traditionelle Zwischentitel. Ménilmontant war auch der Lieblingsfilm von Pauline Kael, einer einflussreichen und langjährigen Filmkritikerin der Zeitschrift The New Yorker.

Rapt war Kirsanoffs letztes grosses Werk. Während des Zweiten Weltkriegs musste er als Jude versteckt auf den Feldern in Südfrankreich arbeiten, seine Karriere wandte sich danach unbedeutenden kommerziellen Projekten zu. Rapt war auch die erste und einzige Produktion von Mentor-Film, dem Lieblingsprojekt des prominenten Schweizer Dramatikers, Romanautors, Journalisten und späteren Produzenten Stefan Markus.

Besetzung und Crew waren international und schweizerisch: Die erste Texttafel des Films kokettiert mit Charles Ferdinand Ramuz’ Roman «Die Trennung der Rassen» aus dem Jahr 1922 und lautet spöttisch: «Echter Schmelztiegel der Rassen, die Schweiz…».

Eine schwarzweisse Filmszene mit zwei Frauen
Szene aus Kirsanoffs «Ménilmontant» (1926). Cinémathèque suisse

Restaurierung mit Hindernissen

Bei der aktuellen Fassung von Rapt handelt es sich um die dritte Restaurierung des Filmmaterials, was auf die anhaltende Bedeutung und Attraktivität des Werks hindeutet. Zuvor war der Film bereits 1978 nach einer Filmkopie restauriert worden, eine zweite Restaurierung erfolgte 1995 ab Originalnegativ, was bei Restaurierungen bevorzugt wird: Diese Fassung ist seitdem bei Vorführungen und auf Video am häufigsten zu sehen.

«Es ist durchaus üblich, Filme aufgrund technologischer Entwicklungen erneut zu restaurieren. Manchmal taucht neues Material auf, was [bei der Restaurierung von 1995] der Fall war», so Blot-Wellens. «Was die jüngste Restaurierung von allen anderen abhebt, ist die Tatsache, dass Caroline Fournier auf gründlichen Nachforschungen und auf der Kontaktaufnahme mit anderen Archiven bestand. Sie wollte genau wissen, was alles vorhanden ist, damit wir wirklich sämtliche Aspekte des Films einfliessen lassen konnten.»

Eine Restauratorin an der Arbeit
Restaurierungsarbeiten an «Rapt». Cinémathèque suisse

Der Restaurierungsprozess gestaltete sich alles andere als einfach. Das französische Negativ war unvollständig, die Rollen teilweise zersetzt, es fehlten Fragmente. Eine deutsche Filmkopie enthielt verschiedene Takes, die zwar original, aber nicht identisch waren. Das war für die damalige Zeit nicht unüblich, vor allem in der Schweiz, wo die Filme gleichzeitig auf Französisch und Deutsch veröffentlicht wurden.

Der digitale Restaurierungsprozess erforderte sorgfältiges Abwägen, was beibehalten und was herausgeschnitten werden sollte. «Einerseits wollten wir so viel Staub und Flecken auf der Filmkopie wie möglich entfernen», erläutert Julie le Gonidec. «Andererseits wir haben uns auch bemüht, alle Besonderheiten des Originalmaterials zu erhalten, denn auch das gehört zum Charakter eines Films.»

Nadia Sibirskaïa
Die Hauptdarstellerin des Films, Nadia Sibirskaïa (geb. Germaine Marie Josèphe Lebas), war mit Kirsanoff verheiratet, aber ihre Karrieren (und ihre Ehe) entwickelten sich nach «Rapt» auseinander. Für ihn bedeutete dies das Aus, für sie einen kurzen Ruhm im französischen Kino der 1930er-Jahre, umworben von Jean Renoir und Julien Duvivier, der jedoch durch den Zweiten Weltkrieg jäh beendet wurde. Cinémathèque Suisse

Surrealistische Bilder, skurrile Klänge

Herausgekommen ist ein Film von beeindruckender Schönheit, eine grandiose Restaurierung eines bezaubernden, nicht ganz klassischen Films, der nicht mit surrealistischen Bildern geizt.

Wer den Film sieht, fragt sich, ob Kirsanoff in einer Parallelwelt vielleicht eine Karriere wie Luis Buñuel gehabt hätte, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer schwierigen persönlichen Lebenslage herausfand und zunächst als kommerzieller Regisseur in Mexiko und später als Arthouse-Liebling in Frankreich und Spanien wiedergeboren wurde.

Was bei Rapt vielleicht am meisten heraussticht, ist der auffallend experimentelle Soundtrack mit skurrilen, fremdartigen Klängen, die einige der intensivsten Szenen des Films begleiten, zum Beispiel ein brennendes Haus in der Schlusssequenz des Films.

«Die Tonspur selbst war [im Originalnegativ] mit Tinte markiert, woraus wir schlossen, dass bei der Bearbeitung des Materials im Labor [1934] ein Brand ausgebrochen war und ein Teil des ursprünglichen Tonmaterials zerstört wurde», erklärt le Gonidec. «Sie mussten den Ton künstlich wiederherstellen, was Kirsanoff bis zum Äussersten trieb. Und dies bei der Restaurierung wiederherzustellen, war enorm komplex.»

«Deshalb ist es so wichtig, Originalmaterial richtig zu lagern», fügt Blot-Wellens hinzu. «Dieser Aspekt geht oft vergessen: Ohne gute Lagerung keine Restaurierung.»

Julie le Gonidec
Julie le Gonidec. Cinémathèque suisse

«Ohne das Originalnegativ hätten wir nie so sorgfältig arbeiten können. Die die Nachforschungen – zum Beispiel anhand der Liebesbriefe zwischen den beiden Stars – halfen uns zu rekonstruieren, wann, wie und in welchem Rahmen der Film gedreht wurde», so le Gonidec.

Wie so viele der Filme, die in Bologna in neuen digitalen Restaurierungen gezeigt wurden, ist auch Kirsanoffs Film heute dank dieser Bemühungen lebendig –

lebendig in dem Sinne, dass er nach wie vor existiert, dass er also 2025 in einer 35-mm-Kopie in tadellosem Zustand einem Publikum gezeigt werden kann, aktuell in Bologna, später auch in Schweizer Kinos. Und lebendig auch in dem Sinne, dass sich das Werk ständig weiterentwickelt, dass neue Recherchen die Wahrnehmung beeinflussen und sogar formen können und den Film schliesslich einem neuen Publikum zuführen, das ihn entdecken möchte.

So gesehen gibt es kein Kino der Vergangenheit – nur eine sich ständig weiterentwickelnde Gegenwart. Das Team der Cinémathèque betont, dass es sich nur um eine Restaurierung der französischen Fassung von Rapt handle. Ein weiteres Restaurierungsprojekt widmet sich der deutschen Fassung, die mehrheitlich mit den gleichen Darsteller:innen zeitgleich gedreht wurde. Fortsetzung folgt!

Editiert von Catherine Hickley/ac. Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler

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