«Die Schweiz ist ein positiver Sonderfall»
Für Peter Gottwald ist die Schweiz ein Erfolgsmodell, das vom dynamischen europäischen Markt profitiere und trotz all seiner Besonderheiten pragmatische Anpassungen vornehmen müsse. Der abtretende deutsche Botschafter relativiert zudem den Druck von aussen auf die Schweiz.
swissinfo.ch: Vor zwei Jahren zeigten Sie sich erfreut über das bilaterale Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland. Es kam dann anders: das Abkommen scheiterte Ende 2012 vor allem am Widerstand der deutschen Sozialdemokraten. Waren Sie enttäuscht?
Peter Gottwald: Es war in vieler Weise eine sehr lehrreiche Zeit. Dinge, die man vor zwei Jahren noch als normal angesehen hat, stellen sich heute ganz anders dar. Dazu gehört auch die Erfahrung mit der innenpolitischen Behandlung dieses Abgeltungsabkommens in Deutschland, das im parlamentarischen Genehmigungsprozess nicht gebilligt wurde.
Damals war das Abkommen eine vernünftige Lösung, die manches einfacher gemacht hätte. Man muss aber auch ganz nüchtern feststellen, dass die Zeit für ein derartiges Abkommen verstrichen ist. Insofern lohnt es sich nicht, ihm nachzutrauern.
swissinfo.ch: Wie soll es mit der Steuerproblematik weitergehen? Rechnen Sie mit Neuverhandlungen? Oder soll direkt der automatische Informationsaustausch angepeilt werden?
P.G.: Wir haben wie gesagt eine neue Situation. Auch die Schweizer Banken bemühen sich aktiv und erfolgreich um Anpassungen. Die Frage unversteuerter deutscher Vermögen in der Schweiz dürfte sehr bald der Vergangenheit angehören.
Jetzt geht es um einen fairen Marktzugang für alle Banken im gesamteuropäischen Gebiet. Ich erwarte, dass künftige Lösungen für eine Gleichbehandlung im Finanzbereich zwischen der EU und der Schweiz gesucht werden. Aber auch in der OECD gibt es neue Entwicklungen.
swissinfo.ch: Sind Sie erstaunt, dass das Bankgeheimnis so schnell «implodiert» ist?
P.G.: Schon vor zwei Jahren gab es Stimmen, die von einer mittelfristigen Veränderung von 5 bis 6 Jahren ausgingen. Dass sich die Dinge jetzt so schnell in Bewegung gesetzt haben und sich so viel Dynamik entwickelt hat, hat mich schon überrascht, wobei wir ja noch nicht zu einem Abschluss gekommen sind. Im Moment sind wir in einer Übergangsphase.
swissinfo.ch: Steuergerechtigkeit und die «Trockenlegung von Steueroasen wie die Schweiz» wurden von der Sozialdemokratischen Partei SPD zum Wahlkampfthema für die Bundestagswahlen im September erkoren. Sind mit der kleinen Schweiz in Deutschland Stimmen zu holen?
P.G.: Steuergerechtigkeit war im Wahlkampf bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westphalen ein Thema. Ob es im Ergebnis tatsächlich eine Rolle gespielt hat, weiss ich nicht.
Im deutschen Wahlkampf hat man sich nicht über die Schweiz als solche ausgelassen, sondern die Steuergerechtigkeit zum Thema gemacht – in diesem Zusammenhang ging es dann natürlich auch um die Schweiz.
Für die Bundestagswahlen vom 22. September steht die heisse Phase des Wahlkampfs noch bevor. Welches die grossen Themen sein werden, kann man noch nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt aber europäische und natürlich wirtschaftliche Themen wie Arbeitslosigkeit und Zukunftsängste, die eine sehr viel wichtigere Rolle spielen werden als die Steuergerechtigkeit und die Schweiz.
Peter Gottwald ist 1948 in Frankfurt am Main geboren.
Er studierte in Konstanz, an der Grenze zur Schweiz, Verwaltungswissenschaft.
Nach Studien in Syracuse, USA, leitete er einige Jahre lang für die Vereinten Nationen (UNO) ein Büro in Nigeria.
Dann begann er seine diplomatische Karriere im Auswärtigen Amt, die ihn in zahlreiche Länder führte.
Gottwald ist ein Experte auf dem Gebiet Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Ende August 2013 geht Gottwald nach über 35 Jahren im diplomatischen Dienst in Pension, behält seinen Wohnsitz aber vorläufig in Bern.
Er ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat drei Töchter.
swissinfo.ch: In Ihrer Zeit in Bern hat der internationale Druck auf die Schweiz zugenommen. Bundespräsident Ueli Maurer sprach in seiner Rede zum Nationalfeiertag gar von einem Kampf zwischen David und Goliath. Trifft diese Wahrnehmung zu?
P.G.: Zwischen Deutschland und der Schweiz hat sich in diesen zwei Jahren bestätigt, dass wir eine intensive Zusammenarbeit haben, die immer wieder durch Spitzenbegegnungen geprägt wird. Eben erst fand bereits das vierte Treffen der beiden Aussenminister statt.
Ich sehe, dass die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland respektvoll und zum gegenseitigen Nutzen ablaufen. Dass es auf beiden Seiten auch einmal etwas schärfere Töne gibt, gehört zum normalen Leben und sollte nicht zu sehr irritieren.
swissinfo.ch: Auch Teile der Schweizer Bevölkerung bekunden Mühe mit dem Druck auf die Schweiz. Bekamen Sie diesen Unmut zu spüren?
P.G.: Ich weiss nicht, ob die Analyse eines Drucks auf die Schweiz das ganze Bild darstellt. Sicher ist es so, dass von der Schweiz im Moment alles, was eine Ausnahmesituation darstellt, kritisch unter die Lupe genommen wird.
Auf der anderen Seite ist die Schweiz auch zu Recht stolz darauf, dass sie in vielen internationalen Ranglisten an der Spitze steht, etwa in der Forschung, in vielen Bereichen der Wirtschaft oder in der Kunst. Man muss alles in einem Kontext sehen und nicht nur eine Seite der Medaille anschauen.
swissinfo.ch: Bekommen Ihre Landsleute diesen von der Schweiz empfundenen Druck zu spüren?
P.G.: Als ich vor zwei Jahren hierher kam, hatte ich mich darauf eingestellt, dass der recht grosse Zuwachs von Deutschen in der Schweiz, der auch ein grosses Interesse an qualifizierten Beschäftigten war, gelegentlich nicht nur positive Reaktionen auslösen würde. Bei Gesprächen mit Deutschen in der Schweiz, aber auch mit vielen Schweizern erhielt ich den Eindruck, dass dieses Thema eine geringere Rolle spielt als erwartet.
Es gibt aber ein allgemeines, unbestimmtes Gefühl, in dem die Sorge vor Überfremdung, einer zu schnellen Zunahme von Ausländern zu spüren ist. Ich denke, das muss man ernst nehmen. Diese Entwicklung war die Kehrseite einer sehr erfolgreichen Schweiz, die sich auf einem grossen internationalen, aber insbesondere europäischen Talente-Markt bedienen konnte, weil sie einfach vorzügliche Bedingungen für Arbeitnehmer bietet.
Ab dem Jahr 2007 nahm die Zahl deutscher Einwanderer stark zu. Mittlerweile leben knapp 290’000 Deutsche in der Schweiz. Sie bilden nach den Italienerinnen und Italienern die zweigrösste ausländische Bevölkerungsgruppe.
Zudem hatten Ende 2012 rund 55’000 deutsche Grenzgänger ihren Arbeitsplatz in der Schweiz.
2012 liessen sich 3444 Deutsche in der Schweiz einbürgern, das sind 7% weniger als im Vorjahr.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz, auch wenn die Ausfuhren nach Deutschland im ersten Halbjahr 2013 um 6% zurückgegangen sind. Auch die Importe aus Deutschland nahmen ab.
(Quelle: EDA, Eidg. Zollverwaltung)
swissinfo.ch: Die grosse Einwanderungswelle aus Deutschland hat etwas nachgelassen. Viele Deutsche kehren der Schweiz mittlerweile den Rücken. Hat die Schweiz an Attraktivität eingebüsst?
P.G.: Ich glaube die Bezeichnung «Einwanderungswelle» ist etwas irreführend. Heute ist allgemein eine sehr grosse Mobilität vorhanden. Die Menschen gehen dorthin, wo sie gute Bedingungen vorfinden – das kann heute die Schweiz und morgens woanders sein.
Es kann durchaus sein, dass Deutsche wieder zurückgehen, weil sie dort günstige Möglichkeiten vorfinden. Diese Rückwanderungsbewegung sollte man nicht überinterpretieren.
swissinfo.ch: Die Schweiz liegt mitten in Europa, ohne jedoch zur EU zu gehören. Ist die direkt-demokratische Schweiz ein Sonderfall, nicht kompatibel mit der zentralistischen EU?
P.G.: Die Schweiz ist sicherlich ein Sonderfall, in grossem Mass ein positiver Sonderfall. Ein grosser Teil des Erfolgs der Schweiz beruht jedoch auch darauf, dass sie in einer dynamischen europäischen Region angesiedelt ist und der Austausch mit den Nachbarländern, aber auch weltweit, floriert. Die Wahrnehmung der Schweiz als kleine isolierte Insel wäre sicherlich falsch.
Was jedoch die institutionellen Gegebenheiten angeht, da ist die Schweiz in der Tat ein Sonderfall, und die direkte Demokratie ist eine ganz spezifische Schweizer Eigenart, die übrigens im Moment in Deutschland sehr viel Interesse findet. Es gibt immer wieder Studiengruppen und Veranstaltungen, wo es darum geht, wie weit man direkt-demokratische Elemente aus der Schweiz auch bei uns zur Anwendung bringen könnte.
Auf der anderen Seite muss die Schweiz immer wieder realisieren, dass sie bei aller Besonderheit doch Teil des europäischen Ganzen ist, was auch zu einer Vielzahl pragmatischer Anpassungen führt .
swissinfo.ch: Eine Mitgliedschaft in der von Krisen heimgesuchten EU hat in der Schweizer Bevölkerung derzeit kaum Chance…
P.G.: Im Moment vertritt deshalb auch niemand die Meinung, man müsste jetzt der Schweizer Bevölkerung die Option EU-Mitgliedschaft vorschlagen. Es stimmt auch, dass es in den letzten Jahren in der Euro-Zone eine ganze Reihe schwieriger und kritischer Entwicklungen gegeben hat. Die EU ist aber immer wieder durch Krisen weitergekommen. Und die letzten Krisen haben dazu geführt, dass neue Spielregeln entwickelt wurden und werden, welche die EU übrigens nicht zentralistischer, sondern krisenresistenter machen sollen.
swissinfo.ch: Nach zwei Jahren als deutscher Botschafter in der Schweiz gehen Sie in Pension. Hat sich Ihr Blick auf die Schweiz in dieser Zeit verändert?
P.G.: Ganz eindeutig. Ich hatte das grosse Glück, dass in meiner ersten Zeit hier die eidgenössischen Parlamentswahlen stattfanden. Ich habe also einen kleinen Crash-Kurs in Schweizer Innenpolitik mitmachen dürfen, habe erlebt, wie der Bundesrat wiedergewählt wurde. Diese zwei Jahre waren für mich eine wichtige Lehrzeit. Ich habe ein differenzierteres und viel realistischeres Schweiz-Bild, als ich das vorher haben konnte.
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