Die Dargebotene Hand

Rund 212'000 Mal wurde im vergangenen Jahr die Telefon-Nummer 143 angewählt. Die Nummer gehört der "Dargebotenen Hand", einer politisch und konfessionell neutralen Telefonhilfe.
Seit über 40 Jahren ist die Organisation ein Teil der sozialen Schweiz.
Ein Jugendlicher, nennen wir ihn Patrick, erhält das Schulzeugnis. Wieder ist er ungenügend in Rechnen. Er wird die höhere Schule nicht schaffen. Sein Vater wird ihn dafür verprügeln, die Mutter still daneben sitzen.
Patrick fürchtet den Augenblick. Mit dem Lehrer mag er nicht darüber sprechen. Nach Hause mag er auch nicht mehr gehen. In seinem Kopf türmen sich schlimme Gedanken.
Da sieht er an einer Plakatwand die Nummer 143. Die Telefonnummer verspricht Hilfe, wenn man nicht mehr weiter wisse. Patrick überwindet sich und ruft an.
Immer mehr Anrufe
«Im vergangenen Jahr riefen pro Tag im Schnitt 580 Hilfesuchende die Nummer der ‹Dargebotenen Hand› an», sagt Rudolf Bolliger, Zentralsekretär der Hilfsorganisation gegenüber swissinfo. «Die Zahl steigt jährlich um viele tausend Anrufe an.»
Gemäss der Organisation stehen Einsamkeit, Partnerschafts-, Familien- und Beziehungsprobleme, Depressionen, Mühe mit der Bewältigung des Alltags und Angst an der Spitze der Hilfe(an)rufe.
10 Prozent der Anrufenden sind unter 20 Jahre alt, 18 Prozent sind über 60 Jahre. «Das zeigt, die Mehrzahl der Hilfesuchenden sind im sogenannt aktiven Leben», sagt Bolliger. Es suchten weit mehr Frauen (73%) Hilfe über die Nummer 143 als Männer.
Freiwillige hören zu
Die Anrufe von Hilfesuchenden werden rund um die Uhr und an sämtlichen Tagen des Jahres von rund 600 freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut. Sie arbeiten ehrenamtlich, werden aber von der Dargebotenen Hand für ihre Aufgabe ausgebildet.
Die Ausbildung dauert rund ein Jahr, an Wochenenden und Abenden. Dann begleitet man eine gewisse Zeit den Telefondienst, um dann in Selbstverantwortung die Arbeit zu übernehmen.
«Personen, die wir für die Arbeit auswählen, müssen belastbar und kommunikativ sein», sagt Rudolf Bolliger. Sie müssten ein Flair haben für soziale Fragen. «Und ganz wichtig: sie müssen zuhören können.»
Es dürfe weder missioniert noch analysiert werden. Wichtig sei die Gesprächsführung. Die Hilfesuchenden sollen selber wieder Mut fassen und Möglichkeiten und Wege entdecken.
Anonymität gewährleistet
«Die Dargebotene Hand respektiert die Autonomie der Anrufenden und die Anonymität der beiden Partnerinnen und Partner des Dialogs. Sie enthält sich persönlicher Urteile und religiöser oder politische Beeinflussung.» So steht es im Leitbild.
Deshalb würden die Mitarbeiter der Nummer 143 nur auf ausdrücklichen Wunsch des Anrufers, der Anruferin, Adressen von Institutionen oder Personen weitergeben.
«Diese Anonymität bringt es mit sich, dass die Mitarbeitenden in der Regel kein Feedback erhalten und nicht wissen, wie sich ihre Arbeit auswirkt», sagt Bolliger.
Die Dargebotene Hand ist in der ganzen Schweiz in 13 Regionalstellen unterteilt. Dazu kommt das Zentralsekretariat in Bern. Die Nummer 143 finanziert sich aus Beiträgen der Kirchen und der öffentlichen Hand. Dazu kommen Spenden von Firmen und Privatpersonen.
Das Gesamtbudget beträgt rund 4,6 Mio. Franken. Wer anruft, bezahlt nur die Grundgebühr, egal wie lange das Gespräch dauert.
swissinfo, Urs Maurer
Nummer 143 am G-8-Gipfel:
Für den Fall eines «schlimmen» Ereignisses im Umfeld des G-8-Gipfels in Evian hat die Polizei des Kantons Waadt die Dargebotene Hand um Hilfe und Unterstützung gebeten
Die Telefonseelsorge begann Anfang der fünfziger Jahre in England. Aufgeschreckt durch die hohe Selbstmordrate rief Pfarrer Chad Varah über die Medien auf: «Bevor sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich unter Mansion House 9000 an».
Bald war die Zahl der Anrufe so gross, dass freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notwendig wurden.
1957 sah sich Pfarrer Kurt Scheitlin in Zürich in gleicher Weise beunruhigt, wie sein englischer Kollege.
Mit der finanziellen Unterstützung des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler wurde am 11. Oktober 1957 in Zürich die erste Stelle der «Dargebotenen Hand» eröffnet.
Der Name der Institution geht übrigens auch auf Gottlieb Duttweiler zurück.

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