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Alexander und seine Fahnentaufe

Ein Junge in einer traditionellen Berner Tracht
Alexander Wegmüller ist 15 Jahre alt. Er träumt von einer Lehre als Landmaschinenmechaniker. In seiner Freizeit schwingt er Fahnen und spielt Hornussen. SWI swissinfo.ch / Thomas Kern

Es gehört wie das Schwingen, das Jodeln und das Alphornblasen zu den lebendigen Traditionen der Eidgenossenschaft: das Fahnenschwingen. Wir treffen Alexander Wegmüller, einen fünfzehnjährigen Jungen aus dem Emmental, der sich für Motoren begeistert und von der Kunst des Fahnenschwingens fasziniert ist.

Alexander hat sich mit seinem Vater in eine Ecke zurückgezogen. Er wirkt sichtlich nervös. Er bewegt sich ruckartig und starrt an die Decke. Es dauert nicht mehr lange, bis er auf die Bühne muss. Endlich kündigt der Sprecher seinen Auftritt an und beendet damit das nervöse Warten.

Es ist 17:36 Uhr. Alexander schultert die Fahnenstange und marschiert zum Bereich, der für die Vorführung reserviert ist: ein blauer Teppich mit zwei konzentrischen Kreisen in der Mitte. Obwohl sein Gesicht keine Aufregung erkennen lässt, tobt in seinem Inneren ein Sturm der Gefühle.

Er hält die Fahnenstange mit der rechten Hand fest, während die linke auf seiner Hüfte ruht. Jodeltöne erklingen. Hinter ihm prangt das Gemälde einer idyllischen Berglandschaft.

Alexander wirft einen letzten Blick auf die Position seiner Füsse, die perfekt im kleineren Kreis positioniert sind, dann beginnt er mit seiner Darbietung.

Die ersten Figuren sind einfach und gelingen ihm perfekt. Die Fahne weht in der Luft und wechselt von einer Hand zur anderen. Doch dann, während eines Wurfs, geht etwas schief: Die Fahne entgleitet ihm und landet auf dem Boden.

Ein Moment, der eine Ewigkeit zu dauern scheint. Alexander hebt sie auf und setzt ohne eine Reaktion zu zeigen sein Fahnenschwingen fort.

In drei Minuten muss er zwölf Bewegungen vorführenExterner Link, wobei er abwechselnd die linke und die rechte Hand benutzt. Beinwelle, Hoher Überschlag, Kopfwelle, Beinumschwung, Offener Überwurf usw. Das «Gut» des Juryvorsitzenden bedeutet das Ende der ihm zur Verfügung gestellten Zeit.

Einige Sekunden lang bleibt Alexander regungslos stehen und hält die Fahne horizontal neben sich. Dann legt er sie auf seine rechte Schulter und verlässt mit grossen Schritten die Bühne. Das Publikum applaudiert, er lächelt ein wenig. Es folgen Händeschütteln und Schulterklopfen. Sein Kommentar: «Es hätte schlimmer kommen können.»

Dauer und Modalitäten

– Jede Darbietung dauert drei Minuten, egal ob man allein oder im Duett auftritt.

Sie beginnt und endet, wenn der Vorsitzende der Jury «Gut» ruft.

– Alle Bewegungen müssen mit der rechten wie auch mit der linken Hand ausgeführt werden.


Raum und Bewegungen

– Die Fahnenschwingerin oder der Fahnenschwinger bewegt sich innerhalb von zwei Kreisen. Innerer Kreis: 60 cm Durchmesser, äusserer Kreis: 150 cm Durchmesser.

– Es ist nicht erlaubt, den Kreis zu verlassen, die Fersen anzuheben oder Schritte nach vorne zu machen (andernfalls gibt es eine Strafe).

– Die Fahne darf weder den Körper noch den Boden berühren und muss immer offen und in Bewegung bleiben.

– Die nicht benutzte Hand muss in Ruhestellung an der Hüfte bleiben.

– Es müssen mindestens zwei «Hochschwünge» gezeigt werden, die aus den 49 vorgeschriebenen BewegungenExterner Link ausgewählt werden.


Eigenschaften der Fahne

– Standardgrösse: 120 x 120 cm.

– Grösse der Fahne für Mädchen und Jungen: 80 x 80 cm oder 100 x 100 cm.

– Es muss sich um eine Kantons- oder Schweizerfahne handeln.

Jury und Bewertung

– Die Jury besteht aus drei Mitgliedern, darunter ein Obmann (Juryvorsitzender).

Die Jurymitglieder beobachten verschiedene Aspekte: Bewegungstechnik und Präzision, Position im Kreis, Schritte, Gleichgewicht, korrekte Ausführung der Würfe und Verwendung beider Hände, Schwierigkeitsgrad der Übung, Höhe der Würfe und technische Beherrschung.

Am Ende werden Punkte von 0 bis 30 vergeben.

Zum ersten Mal im Rampenlicht

Wir befinden uns in St. Stephan, einem Dorf wenige Kilometer vom bekannteren Ferienort Lenk im Obersimmental entfernt. Hier fand im Juni 2025 das Bernisch-Kantonale JodlerfestExterner Link statt, eine Veranstaltung, die Jodlerinnen, Alphornbläser und Fahnenschwinger aus der ganzen Schweiz zusammenbrachte.

Für Alexander war es der Tag seines Debüts. Zwar hat er in der Vergangenheit zusammen mit seiner Mutter Heidi, seinem Vater Manuel und seiner Schwester Nicole bereits unzählige ähnliche Veranstaltungen besucht, jedoch immer als Zuschauer.

«Vor einem Jahr habe ich angefangen, für diesen Wettkampf zu üben», erzählt der 15-Jährige auf der Fahrt nach St. Stephan. Er habe lange Stunden damit verbracht, Bewegungen, Gesten und Griffe zu lernen.

Eine Frau mit lackierten Fingernägeln, mit der Schweizer Flagge und einigen Kantonswappen bemalt
Eine der wenigen Fahnenschwingerinnen, die an dem Wettbewerb teilnahmen, hatte ihre Fingernägel mit der Schweizer Flagge und einigen Kantonswappen bemalt. SWI swissinfo.ch / Thomas Kern

Während des Wettbewerbs kann jede teilnehmende Person entweder allein oder zu zweit vor einer dreiköpfigen Jury auftreten. Die Fahnenschwingerin oder der Fahnenschwinger trägt die traditionelle Tracht und muss eine Abfolge von Figuren vorführen.

Die Jury bewertet Präzision, Vielfalt, Geschwindigkeit, Haltung, flüssige Bewegungen und technische Fertigkeiten, besonders bei hohen Würfen und beim Fangen der Fahne im Flug.

«Man braucht Konzentration, Koordination und ein gutes Gleichgewichtsgefühl», sagt Manuel, Alexanders Vater. «Doch wichtiger als das Ergebnis ist für unsere kleine Familie das Zusammensein.»

Neuste Forschungen widerlegen die in der Schweiz noch immer weitverbreitete Theorie, dass das Fahnenschwingen seinen Ursprung in der Zeit hat, in der Schweizer Soldaten als Söldner für ausländische Mächte in Europa als Reisläufer dienten.

Es gibt jedoch historische Dokumente, die belegen, dass die Hirten im Urnerland bereits vor der Rückkehr der Söldner (zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert) das Fahnenschwingen mit schweren Seidenfahnen und kurzen Stielen praktizierten.

Mit der Entwicklung des Tourismus zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert erlebten die Schweizer Volkstraditionen einen neuen Aufschwung.

Im Jahr 1910 gründete Oskar Friedrich Schmalz in Bern den Schweizerischen Jodlerverband (SJV), dem seit 1922 neben Jodlern und Alphornbläsern auch die Fahnenschwinger der Zentralschweiz angehören.

Quelle: Fahnenschwinger-Vereinigung der NordwestschweizExterner Link

Alexanders Welt

Der junge Berner lebt in Heimisbach im Herzen des Emmentals. Der Hof der Familie und der Stall liegen auf einem Hügel, von dem aus man eine herrliche Aussicht hat.

«Fussball und Hockey interessieren mich nicht», erzählt er. «Ich schwinge lieber die Fahne, auch wenn meine Klassenkameraden das für reine Zeitverschwendung halten. Für mich bedeutet es Tradition und Heimat

Mit seinem Vater, der diese Leidenschaft seit über dreissig Jahren pflegt, geht er jeden Freitagabend in die Dorfsporthalle. Dort trainiert er mit seinem Freund Yannick und anderen erwachsenen Fahnenschwingern.

«Die einzelnen Figuren auszuführen, ist relativ einfach. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, sie harmonisch miteinander zu verbinden und dabei sowohl die rechte als auch die linke Hand zu benutzen.»

Alexanders Welt besteht aus Motoren, Büchern und drei Zwergziegen. In einem Jahr wird er die obligatorische Schule abschliessen, dann wartet die Arbeitswelt auf ihn. «Ich möchte Landmaschinenmechaniker werden», erzählt er.

Nach der Schule und im Sommer hilft er seiner Familie im Stall oder bei der Heuernte. Dies tut er eher aus Pflichtgefühl als aus Leidenschaft.

Er verliert sich lieber in den Seiten eines Buchs, kümmert sich um seine Ziegen oder repariert sein Mofa, mit dem er zur Schule oder durch die Hügel um Sumiswald fährt.

«Ich würde es gerne tunen, aber meine Eltern lassen mich nicht», erzählt er und fügt hinzu, dass er sich derzeit noch nicht besonders gut mit Motoren auskenne, nach seiner Lehre aber mehr darüber wissen werde. Vorerst beschränkt er sich darauf, die alten Schilter-Landmaschinen seines Vaters zu ölen.

Jung und alt in Berner Trachten
Nach der Aufführung geht es weiter an die Lenk, um dem Jodelgesang zu lauschen und vielleicht sogar selbst mitzusingen. SWI swissinfo.ch / Thomas Kern

Zurück nach St. Stephan. Nach seinem Auftritt kann Alexander den Familienausflug endlich geniessen. Beim Jodlerfest fühlt er sich zu Hause.

Er ist umgeben von Fahnenschwingern, Jodlerinnen und Alphornbläsern, die alle Tracht tragen. Er sitzt auf einem Holzstapel, das Handy in der Hand, und verliert sich für ein paar Minuten im Labyrinth des Internets.

Dann steckt er das Smartphone in die Hosentasche und kehrt in die reale Welt zurück. Neben ihm ist die Schweizer Fahne aufgerollt, im Hintergrund ertönt ein Jodler.

Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Zeno Zoccatelli

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