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Bircher – weit mehr als nur “Müesli”

Dr. Bircher am Diskutieren. Foto aus dem Jahr 1937. Keystone

Dieses Jahr wäre die Bircher-Benner-Klinik in Zürich 100jährig geworden. Der charismatische Arzt und Rohkost-Pionier Max Bircher hatte sie 1904 gegründet.

Auch wenn die Klinik seit 1994 geschlossen ist – es bleibt das weltberühmte “Bircher-Müesli” und die Idee einer ganzheitlichen Gesundheits-Philosophie.

Das Wort “Müesli” ist das einzige echt schweizerdeutsche Wort, das Eingang in alle Weltsprachen gefunden hat. Seinen Ursprung hat das heute in zahllosen Varianten genossene Produkt im “Bircher-Müesli”, erfunden vor über 100 Jahren vom Zürcher Arzt Max Bircher.

Das “Müesli” gilt als gesunde, vegetabile Rohkost. Doch hinter dem echten “Bircher-Müesli” steckte noch viel mehr: eine gesamtheitliche Gesundheitsphilosophie, kombiniert mit einer damals quer zum Zeitgeist liegenden Diätetik der Vollwertkost und dem Verzicht auf Alkohol, Kaffee und Kakao.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich die Ärzteschaft noch kaum um die Ernährung kümmerte, wirkten solche Gedanken sogar unter Medizinern revolutionär.

100 Jahre später feiert die Ärzteschaft am 6. und 7. März mit einem Symposium die Bedeutung des Ernährungs- und Lebensreformers Bircher und seiner Klinik.

Bircher ist nicht Kellogg’s

Sein Kombinieren von Ernährungsfragen mit gesamtheitlichen Gesundheitsaspekten hat aus Bircher einen medizinischen Pionier gemacht. Sein Einfluss überdauerte und reicht weit über die Schweiz hinaus.

Dies obgleich Bircher aus seinem “Müesli” keine international geschützte “Trade Mark” machte wie sein amerikanisches Pendant “Kellogg’s”.

In den USA erfanden die Brüder Kellogg in Michigan 1906, also zur gleichen Zeit wie Bircher, die ersten Produkte aus Getreideflocken. Und sie begannen sofort, industriell zu produzieren. Heute setzt der Konzern 9 Mrd. Dollar um.

“Eine solche Vermarktung wäre Max Bircher fremd gewesen”, sagt Eberhard Wolff vom Bircher-Benner-Archiv am Medizinhistorischen Institut der Uni Zürich gegenüber swissinfo.

Ideen seien Bircher wichtiger gewesen als das Geld, meint Wolff. Die Bircher-Müesliraffel mit den zwei Zähnen sei wohl das einzige je von ihm patentierte Produkt, vermutet er.

Bedeutung der Ernährung

Ende des 19. Jahrhunderts stellte der junge Arzt Max Bircher fest, dass Rohkost den Heilungsverlauf begünstigte. Die lenkte seine Aufmerksamkeit allgemein auf die Bedeutung der Ernährung für Gesundheit und Krankheit.

Mit seiner Kritik, dass die gängige Arzneimittel-Behandlung rein symptomatisch sei und dass die Medizin ganzheitliche Ursachen-Behandlung sowie seelische Prozesse miteinbeziehen müsse, wirkt Bircher auch heute durchaus zeitgemäss. Damals aber zog er den Ärger der Schulmedizin ganz gehörig auf sich.

Dennoch festigte sich sein Ruf als Vordenker in Sachen Ernährung. Seine damals neuartige Diätetik ist heute Allgemeingut.

Weshalb wurde die Klinik 1994 geschlossen?

Auch sein internationaler Erfolg gab Bircher recht. Seine Privatklinik, 1904 gegründet, verzeichnete bis zum Ersten Weltkrieg grosse Erfolge, an die er in der Zwischenkriegszeit wieder anschliessen konnte.

“Noch in den 1970er Jahren verzeichnete die Klinik mehr Gäste als in den 60er Jahren”, weiss Wolff anhand der Patientenkarteien. Doch rentierte sie offenbar Ende der 80er Jahre nicht mehr richtig. Woher diese Entwicklung kam, kann Wolff nur vermuten.

“Das Auf und Ab naturheilkundlicher Anstalten ist oft mitbestimmt vom Charisma und der Persönlichkeit der Direktoren”, sagt Wolff. Bircher habe seine Kurgäste sicher auch als Person in Bann gezogen. Nach seinem Tod 1939 folgte ihm seine Tochter Ruth Kunz-Bircher als Direktorin, zusammen mit ihrem Bruder Ralph Bircher.

In der Direktion tätig war auch ein weiterer Bruder, Franklin E. Bircher, als vollamtlicher Chefarzt, wie seine Witwe Alice Bircher gegenüber swissinfo präzisiert. Dieser habe das Sanatorium, das früher noch “Lebendige Kraft”
hiess, in “Bircher-Benner Klinik” umgetauft. Er untermauerte die Ernährungslehren seines Vater wissenschaftlich, und richtete ein Stoffwechsel-Laboratorium und ein Röntgen-Institut ein.

Auf Franklin Bircher folgte als Chefärztin Dagmar Liechti-von Brasch, eine Nichte von Max Bircher.

Bircher selber wie auch seine direkten Nachfolger schafften es, mit Kurprominenz wie Thomas Mann, Jehudi Menuhin, Golda Meir, Habib Bourgiba, Ionesco, Arthur Honegger oder Maria Becker richtig umzugehen.

Wellness-Trends und Zeigeist-Wellen

Beim Medizinhistorischen Institut vermutet man, dass möglicherweise die Trendwende von der seriösen Ganzheitsmedizin zur leichtfüssigeren ganzheitlichen Wellness-Welle nicht früh genug eingeleitet worden war.

“Der Bircher-Benner-Klinik ähnlich gelagerte, ehemalige traditionelle Kurhäuser im Tessin figurieren heute im Verzeichnis der Wellness-Hotels”, sagt Wolff.

swissinfo, Alexander Künzle

Der junge Arzt Maximilian Bircher (1867 bis 1939) eröffnet 1891 eine Praxis im Zürcher Industriequartier.

Er kritisiert die damals gängige Schulmedizin als rein symptomatisch und sucht eine Methode, die Ursachen und seelischen Prozesse von Krankheiten mitzubehandeln.

Über die Rohkost kommt er auf die Bedeutung der Ernährung für Gesundheit.

1897 gründet er in Zürich-Hottingen eine kleine Privatanstalt für “diätetisch-physikalische Therapie”.

Die Zürcher Ärztegesellschaft lehnt seine Methode ab. Doch sein Heil- und Sinnstiftungsangebot erfreut sich wachsender und internationaler Nachfrage.

Schon 1904 zieht er in einen Sanatoriumsbau am Zürichberg. Bald offeriert er 60 Betten und ein fünfköpfiges Ärzteteam für die Kurgäste aus aller Welt.

Er wird Vordenker in Sachen Vitaminforschung.

Nach seinem Tod bleibt die Klinik noch lange Bezugspunkt, bis sie 1994 geschlossen wird.

Vom 5. bis 7. März 2004 findet am Ort der ehemaligen Bircher-Benner-Klinik am Zürichberg ein Symposium zum 100-jährigen Jubiläum der Klinik statt.

Dabei wird Birchers Denken und Schaffen aus historischer Sicht interpretiert.

Die zahlreich erhalten gebliebenen Krankenakten der ehemaligen Klinik geben eine medizin- und sozialgeschichtlich reiche Quelle ab.

Das Museum Mühlerama im Zürcher Tiefenbrunnen-Quartier widmet zudem dem “Bircher-Müesli” ab Ende April 2004 eine Sonderausstellung.

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