
Wie wirkungsvoll ist der Schweizer Einsatz für politische Gefangene?

Die Schweiz setzt sich weltweit für politische Gefangene ein. Anders als andere Staaten setzt sie dafür eher auf Hinterzimmer-Diplomatie statt auf öffentliche Verurteilungen. Doch mit dem wachsenden Einfluss autoritärer Staaten stellt sich die Frage, wie sinnvoll der Schweizer Weg noch ist.
Am 19. September 2020 wurde Natallia Hersche, schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin, während ihren Ferien in Minsk verhaftet, nachdem sie an einer unbewilligten Demonstration in der belarussischen Hauptstadt teilgenommen hatte. Die Behörden warfen ihr vor, sie habe einem Polizeibeamten die Sturmhaube abgezogen und ihn damit verletzt.
Hersche hatte die Vorwürfe zurückgewiesen. Dennoch wurde sie zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Belarussische Menschenrechtsgruppen zweifelten jedoch an der Rechtmässigkeit des Verfahrens und sehen Hersche als politische Gefangene an. Am 18. Februar wurde sie entlassen – nach 17 Monaten hinter Gittern.

Während ihrer gesamten Haftzeit stand das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA)Externer Link in engem Kontakt mit ihr und ihrer Familie, und versuchte, ihre Freilassung zu erreichen.
«Die Schweiz konnte Natallia Hersche konsularische Hilfe gewähren, obwohl dies für Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft nicht garantiert ist», erklärte das EDA.
«Vertreter der Schweizer Botschaft in Minsk konnten sie mehrmals im Gefängnis besuchen», so das EDA. Normalerweise ist diese Hilfe Personen vorbehalten, die ausschliesslich die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen.
Im Februar 2022 gab der damalige Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis ihre Freilassung in einem Beitrag auf der Social-Media-Plattform XExterner Link bekannt: «Ich bin froh, dass sich die diplomatischen Bemühungen der Schweiz ausgezahlt haben.»
Endlich! Natallia Hersche wurde heute nach 17 Monaten Haft in Belarus freigelassen. Sie wurde von ihrem Bruder und @SwissAmbBelarusExterner Link empfangen und kehrt nun in die #SchweizExterner Link zurück. Ich bin froh, dass sich die diplomatischen Bemühungen der Schweiz ausgezahlt haben. 1/2 pic.twitter.com/8ro6ivEYO1Externer Link
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) February 18, 2022Externer Link
Unterstützung politischer Gefangener
Die Freilassung politischer Gefangener, sowohl von Schweizer:innen als auch von Nicht-Schweizer:innen, ist Teil der regulären konsularischen Dienstleistungen der Schweiz. Darüber hinaus ist es Teil ihres politischen Auftrags zur Förderung der Demokratie im Ausland.
So unterstützt sie aktiv politische Gefangene in autoritären Ländern wie Russland und China – etwa in Form von offiziellen politischen Erklärungen, Besuchen in Gefängnissen oder Treffen mit Dissident:innen.
Im Fall von Hersche organisierte das Schweizer Konsulat in Minsk ihren Transfer vom Gefängnis zum Flughafen, wo sie ein Flugzeug in Richtung Schweiz bestieg.

«Die Schweiz beteiligt sich nicht mit militärischen Mitteln an Konflikten», sagt Thomas Borer, ehemaliger Schweizer Botschafter in Deutschland, der heute eine Rechtsberatungsfirma leitet.
«Aber sie geht konsequent mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln gegen Verstösse gegen das Völkerrecht vor.»
Die Schweiz organisiert auch bilaterale Menschenrechtsdialoge mit Ländern wie China und Iran, in denen sie Menschenrechtsverletzungen thematisiert.
Dabei hilft der Schweiz, dass sie mit dem internationalen Genf, wo zahlreiche UNO-Institutionen und internationale NGOs ihren Sitz haben, einen Hub für multilaterale Beziehungen beherbergt.
So führte die Schweiz beispielsweise 2022 einen Menschenrechtsdialog mit dem IranExterner Link – zu einem Zeitpunkt, als regimekritische Proteste in dem Land auf einem Höhepunkt standen.
Damals unterstützte die Schweiz NGOs, die sich für iranische Häftlinge einsetzten – darunter Frauen, die wegen Verstosses gegen die Hijab-Pflicht verhaftet worden waren.
Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat seinen Sitz in Genf. Das IKRK fungiert häufig als Vermittlerin zwischen Konfliktparteien, um die Freilassung oder den Austausch von Kriegsgefangenen, Häftlingen oder Geiseln zu erleichtern.
Ebenfalls in Genf hat die Schweiz die Schaffung einer UNO-Instanz unterstütztExterner Link, um das Schicksal von Vermissten in Syrien zu untersuchen. Viele von ihnen waren politische Gefangene des Regimes von Bashar al-Assad, das im Dezember 2024 gestürzt wurde.
Darüber hinaus leistet die Schweiz regelmässig freiwillige Beiträge an UNO-Gremien, die Menschenrechtsverletzungen untersuchen.
Während die meisten westlichen Demokratien politische Gefangene ebenfalls öffentlich unterstützen, verfügt die Schweiz über ein umfangreiches Netzwerk diplomatischer Vertretungen im Ausland. Ihre Neutralität macht sie zu einer vertrauenswürdigen Partnerin für gegnerische Konfliktparteien.
Insgesamt 141 diplomatische Vertretungen unterhält die Schweiz weltweit, davon 34 in autoritären Ländern.
Damit verfügt die Schweiz, gemessen an ihrer Grösse, über eine umfangreiche diplomatische Präsenz im Ausland – in absoluten Zahlen gerechnet liegt sie weltweit auf Platz 19.
Als regelmässige Gastgeberin internationaler Friedenskonferenzen ermöglicht die Schweiz diskrete Vermittlungsgespräche zwischen der Zivilgesellschaft, Nichtregierungsorganisationen und Konfliktparteien.
So etwa bei den Friedensgesprächen zum Krieg in Sudan vergangenen August in der Nähe von Genf, die die Schweiz gemeinsam mit den USA organisiert hatte: Mit diesem Prozess schufen die Diplomat:innen eine Plattform für die Opposition und die Zivilgesellschaft, einschliesslich politisch Verfolgter, um einen vertraulichen Dialog mit den Konfliktparteien zu führen.
Die Schweiz hat auch mehrere Schutzmachtmandate inne. Als solche vertritt sie einen Staat in einem anderen Land, zu dem ersterer keine – oder nur sehr eingeschränkte – formellen, diplomatischen Beziehungen führt.
Als jüngstes Mandat vertritt sie seit 2024 Ecuador in VenezuelaExterner Link. Ecuador hatte nach den letzten Präsidentschaftswahlen in Venezuela im selben Jahr die Beziehungen zu dem Land abgebrochen.
Dies verschafft der Schweiz einen einzigartigen Kommunikationskanal zur derzeitigen venezolanischen Regierung des links-autoritären Staatschefs Nicolas Maduro. Dadurch kann sie indirekt Bedenken über Menschenrechtsverletzungen übermitteln, darunter die Verhaftung von Oppositionellen.
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Effizienz in Frage gestellt
Doch manche NGOs stellen die Wirksamkeit dieser Diplomatie inzwischen infrage. Da autoritäre Regime wie China und Russland in internationalen Institutionen an Einfluss gewonnen haben, sollten Länder wie die Schweiz sich offener für die Menschenrechte einsetzen, argumentieren sie.
In über 70 Ländern befinden sich heute Zehntausende in politischer Gefangenschaft – ein Beweis dafür, dass autoritäre Unterdrückung kein Relikt der Vergangenheit ist, sondern eine wachsende globale Realität.
Manche Diskussionen über deren Inhaftierung und Freilassung finden nun auf Wunsch autoritärer Führer hinter verschlossenen Türen statt – mit dem Ziel, die Missbräuche vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Wegen ihrer Neutralität kann die Schweiz weniger offen Partei ergreifen als andere westliche Demokratien. In der Folge wird sie zu bestimmten Themen oft als weniger lautstark angesehen.
Nach dem Tod des russischen Oppositionsführers Alexei Nawalny in einem russischen Gefängnis im Februar 2024 zum Beispiel reagierte die Schweizer Regierung zurückhaltend: Sie drückte ihre «Besorgnis» ausExterner Link, statt dass sie dessen Tod offen verurteilte.
La Suisse est consternée par le décès d'Alexei Navalny, un défenseur exemplaire de la démocratie et des droits fondamentaux. Elle attend qu’une enquête soit ouverte sur les causes de sa mort. Nos condoléances et nos pensées à sa famille.
— EDA – DFAE (@EDA_DFAE) February 16, 2024Externer Link
Damit stiess sie im Inland zwar auf Kritik. Gleichzeitig wurde dies von einigen Expert:innen damals als Mittel angesehen, die Rolle der Schweiz als potenzielle Vermittlerin für den Frieden zwischen Russland und der Ukraine zu bewahren.
«Die Schweiz ist selten in der Position, zu provozieren», sagt Ex-Botschafter Borer. «Letztendlich kann man Regime, welche die Menschenrechtsverletzungen begehen, nur zu Verhaltensänderungen bringen, wenn die internationale Gemeinschaft über viele Jahre hinweg nachhaltigen politischen, medialen und vor allem wirtschaftlichen Druck ausübt.»
Im Jahr 2023 nahm die Schweiz ihren Menschenrechtsdialog mit China wieder auf. Peking hatte diesen 2019 ausgesetzt, nachdem die Schweiz eine Forderung der Vereinten Nationen zur Schliessung von Internierungslagern in der chinesischen Region Xinjiang unterstützt hatte. Auf Wunsch Chinas wurden Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von diesem Dialog ausgeschlossen.
Damals warnten zivilgesellschaftliche Gruppen, dass Chinas Versuch, sich als positiver Akteur im Bereich der Menschenrechte zu positionieren, nur «Augenwischerei» sei.
Auch linke Parteien in der Schweiz kritisieren den Menschenrechtsdialog mit China. Sie sehen in ihm vor allem eine strategische Initiative der Schweiz zur Förderung ihrer Handelsinteressen.
Im Februar 2025 fand der bilaterale Menschenrechtsdialog zwischen der Schweiz und ChinaExterner Link, auf vertraulicher Ebene, wieder statt. Dabei wurden die Situation der Uigur:innen, die Religions- und Meinungsfreiheit, die Rechte von Frauen und LGBTQ+-Personen sowie die Lage in Tibet und Hongkong thematisiert. NGOs waren keine anwesend, auch eine gemeinsame Erklärung wurde nicht veröffentlicht.
Der Fall China, wo Schweizer Diplomat:innen, aber auch Vertreter:innen anderer Länder, regelmässig hinter verschlossenen Türen Menschenrechtsprobleme ansprechen, sei ein Testfall, sagt Borer.
Ein solcher diskreter Dialog könne zu kleinen Erfolgen führen – zur Freilassung einer Person etwa oder zum Zugang für eine NGO.
«Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Die strukturelle Unterdrückung bleibt bestehen. Gemessen am Ausmass der Missbräuche bietet die stille Diplomatie symbolischen Trost, aber keinen systemischen Wandel», so Borer.
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Kleine Schritte können helfen
Obwohl Hinterzimmerdiplomatie oder Treffen mit Dissident:innen oft nicht zu konkreten Ergebnissen führen, bedeutet dies nicht, dass sie nur symbolischen Charakter haben.
«Sichtbare Gesten vermitteln eine starke öffentliche Botschaft und können international das Bewusstsein schärfen», sagt Borer. Der zurückhaltendere Ansatz der Schweiz dagegen ermögliche ein kontinuierliches Engagement und schrittweise Fortschritte.
Die Schweiz setze sich weiterhin konsequent für die Förderung der Menschenrechte, für Meinungsfreiheit und die Rechenschaftspflicht bei Menschenrechtsverletzungen ein, sagt eine EDA-Sprecherin gegenüber Swissinfo.
«Die Schweiz und die Schweizer Botschaft in Belarus haben die bedingungslose Freilassung aller willkürlich inhaftierten Personen gefordert», so die Sprecherin in Bezug auf die Diplomatie in Belarus.
Einen Menschenrechtsdialog führen die Schweiz und Belarus derzeit nicht. Doch die Schweiz spreche die Menschenrechtslage in Belarus regelmässig in bilateralen Gesprächen und multilateralen Foren an, so das EDA. Im Fall von Hersche führte der Druck des Schweizer Konsuls zu einer Verkürzung der Haftstrafe.
Die Schweizer Regierung sei damals «eine Quelle spiritueller Unterstützung» gewesen, sagt Hersche. Der damalige Schweizer Botschafter Claude Almeriatt habe sie von Beginn ihrer Haft an regelmässig besucht, während der Ermittlungen alle zwei Wochen und nach dem Prozess einmal im Monat.
«Er war meine wichtigste Informationsquelle über das, was auf der anderen Seite des Zauns geschah», sagt Hersche.
In Russland befinden sich aktuell mindestens 1600 Menschen als politische Gefangene in Haft, laut zwei Datenbanken der unabhängigen Menschenrechts- und Mediengruppe OVD-info und Memorial, einer russischen Menschenrechtsorganisation.
Zu einigen dieser Gruppen unterhält die Schweiz enge Kontakte – trotz der damit verbundenen Spannungen mit Moskau. Sie lädt sie zu informellen diplomatischen Treffen ein, etwa zum Mittagessen oder am Rand internationaler Konferenzen.
Einer dieser Menschenrechtsaktivist:innen ist der russische Oppositionspolitiker und Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa. Wenige Tage vor seiner Verhaftung in Moskau im April 2022 traf er sich mit der Schweizer Botschafterin.

«Während des Mittagessens sprachen wir darüber, dass ich bisher noch nicht viel mit der Schweiz zusammengearbeitet hatte», sagt Kara-Mursa.
«Da lud mich die Botschafterin ein, nach Bern zu kommen, um mich mit der Führung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten zu treffen und über die europäische Agenda, Menschenrechte und natürlich die bilateralen Beziehungen zu sprechen.»
Kara-Mursa wurde im August letzten Jahres freigelassen. Im Februar reiste er zum Gipfeltreffen für Menschenrechte und Demokratie nach Genf. Dort forderte er, dass die Freilassung aller Kriegsgefangenen und entführten ukrainischen Kinder Teil eines Friedensabkommens zwischen Russland und der Ukraine sein sollte.

Doch die Schweiz könnte ihren Standort Genf besser nutzen. Das sagt Dimitry Muratov, ehemaliger Chefredaktor der russischen Zeitung Novaya GazetaExterner Link und Friedensnobelpreisträger, auf die Frage, ob ein Land wie die Schweiz genug für politische Gefangene und die Förderung der Menschenrechte im Allgemeinen tue.
«Die Schweiz könnte den Austausch von Gefangenen und gegenseitige Amnestien für politische Häftlinge erleichtern, indem sie die Missionen des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz mit Sitz in der Schweiz einbezieht.»
Editiert von Virginie Mangin/ac, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/raf

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