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Feiern und abstimmen

Jede Stimme zählt. swissinfo.ch

Die Schweiz ist berühmt für ihre direkte Demokratie. Weniger ruhmreich ist indes die tiefe Stimmbeteiligung. Nun machen "Vote-in-Partys" die Stimmabgabe zum Event.

Das Motto «tanzen, trinken, abstimmen» lockte in Zürich weit über 1000 Personen an.

Zürich, Industriequartier. Ein Scheinwerfer bestrahlt grell die Plexiglas-Urne in der Toni-Molkerei. Ein junger Mann betritt im Takt der Techno-Beats den Scheinwerferkegel, schwenkt gekonnt das Stimmcouvert und lässt es nach kurzem Zögern locker in die Urne fallen.

Die staatsbürgerliche Performance ist bühnenreif und macht deutlich, jede Stimme zählt. Der Kontrast zum sonntäglichen Gang zum Wahllokal könnte grösser nicht sein.

«Mir hat das Bild gefallen, dass Leute an einer Party nonchalant ihr Stimmcouvert in die Urne werfen und damit deutlich machen: Wir sind nicht nur Partygänger, sondern auch Staatsbürger», sagt Veranstalter Thomas Haemmerli gegenüber swissinfo.

Es gehe aber nicht in erster Linie um die Zahl der Stimmen, die an diesem Abend zusammenkämen. Wichtig sei auch, dass im Umfeld der Party über die Abstimmung gesprochen werde.

Diesmal geht es um die Goldinitiative und den Gegenvorschlag der Regierung. Im Kanton Zürich wird zudem über das Partnerschaftsgesetz abgestimmt, welches gleichgeschlechtliche Paare bei den kantonalen Steuern und bei der Sozialhilfe Ehepaaren gleichstellt. Entsprechend gross ist auch der Aufmarsch der Schwulen und Lesben an diesem Abend. Viele Paare betreten gemeinsam das Rampenlicht und werfen ihre Stimmcouverts feierlich in die Urne.

Trendiges Abstimmen

Dass die Inszenierung der Demokratie in dieser Form überhaupt zulässig ist, liegt an der Möglichkeit der brieflichen Stimmabgabe. Diese wurde 1994 auf nationaler Ebene eingeführt, um den stetigen Rückgang der Stimmbeteiligung aufzuhalten – allerdings ohne Erfolg.

Mit der brieflichen Stimmabgabe hat man keine neuen Wähler geholt. Dennoch ist sie vor allem in städtischen Gebieten ein voller Erfolg. In Genf und Basel liegt der Anteil brieflich Stimmender bei 90 Prozent, und kaum jemand besucht noch persönlich das Wahllokal.

Das Abstimmen ist damit aber gleichzeitig auch anonymer und emotionsloser geworden. Das öffentliche briefliche Abstimmen, wie an der «Vote-in-Party» zelebriert, macht dies wieder rückgängig und die Demokratie zum Fest. Damit können auch junge Stimmabstinente zum Mitmachen bewegt werden.

Mit den Partys wird Abstimmen zum Trend. Sie habe noch nie abgestimmt und wisse noch gar nicht, wie das geht, gesteht eine junge Frau an der Bar der Toni Molkerei. Für andere sei es fast wie ein Coming Out, erzählt Haemmerli. «Viele haben gesagt: Toll, dass ihr das macht. Wir sind zwar auch schon immer stimmen gegangen, aber fast ein bisschen heimlich.»

Während sich die Urne stetig mit Stimmzetteln füllt, heizen auf der Bühne junge Rapperinnen dem immer zahlreicher werdenden Publikum ein. Gegen 1.30 Uhr fährt die Express-Post vor, und nimmt die Stimmcouverts in einem verschliessbaren Postsack mit. Das Wahllokal ist geschlossen, die Party geht weiter.

Weder Stimmenfang noch Wahlbestechung

Laut Bundesgericht betreiben die Veranstalter der «Vote-in-Party» weder Stimmenfang noch Wahlbestechung. Dies machte das oberste Gericht in seiner Antwort an den rechts-bürgerlichen «Bund der Steuerzahler» klar. Dieser hatte anlässlich der «Vote-in-Party» im Vorfeld der Abstimmung über den UNO-Beitritt der Schweiz vom vergangenen März Strafanzeige eingereicht.

Die Besucher hätten klar gewusst, dass sie eine Pro-UNO-Veranstaltung besuchen, schreibt das Bundesgericht. Zudem sei auch der Gratiseintritt zur «Vote-in-Party» keine Wahlbestechung gewesen.

Um erneuten Klagen von vornherein den Boden zu entziehen, hat Haemmerli diesmal auf den Gratiseintritt verzichtet. Die Besucherinnen und Besucher erhalten beim Eingang einen Zettel, der deutlich macht, dass keinerlei Stimmzwang herrscht. «Was Du stimmst, ist allein Deine Sache», heisst es da unter anderem.

Auch an der Party selbst werden keine Stimmempfehlungen abgegeben. Diese finden sich aber zusammen mit einer Anleitung zum Abstimmen auf der Website der Veranstalter und können dort auch abonniert werden. Vor jeder Abstimmung erhalten die Abonnenten ein Email mit links-liberalen Parolen.

Zukunft E-Voting

Der gegenwärtige Abstimmungs-Service ist für Haemmerli und seine Mitstreiter jedoch erst der Anfang. » In Zukunft werden wir auf dem Web abstimmen können», ist Haemmerli überzeugt. Dann werde man auf Sites wie votez.ch personalisierte Wahlempfehlungen anhand der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Präferenzen abrufen können.

Abstimmen über das Internet wird in der Schweiz in zehn Jahren vielleicht Realität sein. Zurzeit laufen in verschiedenen Kantonen Pilotversuche zum E-Voting. Dabei geht es nicht nur um die elektronische Stimmabgabe bei Abstimmungen und Wahlen, sondern auch um die elektronische Unterzeichnung von Initiativen und Referenden.

Der Berner Politologe Wolf Linder warnt allerdings davor, vom E-Voting eine nachhaltige Steigerung der Stimmbeteiligung zu erwarten. Elektronische Wähler seien nicht unbedingt neue Wähler und fehlendes Interesse könne nicht durch technische Mittel ersetzt werden.

Beschränkter Export-Artikel

Braucht es also doch eine Art Event-Demokratie, um ein weiteres Absinken der Stimmbeteiligung zu verhindern? Haemmerli will auf jeden Fall weiter machen und auch in anderen Städten Vote-in-Parties organisieren.

Ein erster Testlauf in Bern war allerdings eine herbe Enttäuschung: Nur gerade 100 Personen fanden sich zur Party ein. «Wir haben mit den falschen Leuten zusammengearbeitet», erklärt sich Haemmerli den Misserfolg. Vielleicht lässt sich die Zürcher Party-Kultur aber auch nur bedingt exportieren.

swissinfo, Hansjörg Bolliger

Stimmbeteiligung:
Nationalratswahlen: 1919 80%, 1999 43%

Sachabstimmungen:Im Durchschnitt 43%

Grossratswahlen Bern 2002: 29,5%

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