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Wie Schulen in der Schweiz Demokratie lehren

Trogen
Trogen, im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Keystone / Gian Ehrenzeller

In einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen auf dem Vormarsch sind und die Demokratie auf dem Prüfstand steht, kommt der Erziehung zur aktiven Bürgerschaft eine entscheidende Bedeutung zu. Zwei Schulen in der Schweiz ragen heraus – durch Einbezug und Beteiligung der Schülerschaft.

«Warum hat uns noch niemand gefragt, was wir denken? Warum sollten wir erst in der Oberstufe mit dem Französischunterricht beginnen?» Obwohl wir nicht im Klassenzimmer anwesend waren, fassen diese Fragen die Reaktionen einiger Schüler:innen der Schule NiderenExterner Link in TrogenExterner Link nach einer politischen Wahl gut zusammen.

Ende März hatte nämlich der Grosse Rat des Kantons Appenzell Ausserrhoden eine Motion verabschiedet, die die Abschaffung des Französischunterrichts in der Primarschule forderte. Ein Entscheid, den die Schülerinnen und Schüler zweier Klassen mit den Französischlehrerinnen und -lehrern der Schule in dem rund 2’000 Einwohner zählenden Dorf in den Appenzeller Hügeln diskutieren wollten.

So gaben ihnen die Lehrpersonen zu Beginn des Unterrichts die Gelegenheit, ihre Meinung zu diesem politischen Prozess zu äussern und Argumente für und gegen den Französischunterricht in der Primarschule zu sammeln. Schliesslich beschlossen sie, einen Brief an den Grossen Rat und die Kantonsregierung zu schreiben, um ihren Standpunkt darzulegen.

Die Idee, einen Brief an die politischen Behörden zu schicken, ist die natürliche Fortsetzung eines Weges, der seit mehr als 15 Jahren an der Schule in Trogen verfolgt wird: die Erziehung zur aktiven Bürgerschaft. «Der Schülerrat trifft sich jede Woche während einer Stunde im Stundenplan», erklärt Lehrer Dominik Widmer, der das Projekt seit über zwölf Jahren koordiniert. «Diese Regelmässigkeit garantiert Kontinuität und ein Bewusstsein für die Bedeutung der Arbeit.»

Jede Klasse, vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse, ist mit einem oder zwei Schüler:innen im Niderenrat vertreten. Im Schulrat werden alltägliche Themen besprochen, um das Gefühl der Zugehörigkeit zur Schulgemeinschaft zu stärken. «Dies geschieht zum Beispiel durch Beobachtungen von Fehlverhalten in der Pause oder auf dem Schulweg», erklärt Widmer. In solchen Fällen formuliert der Rat Vorschläge zur Verbesserung des schulischen Zusammenlebens, die dann in allen Klassen diskutiert und abgestimmt werden.

«Auf Anregung des Schulrats», so Widmer weiter, «hat die Gemeinde die Schulbushaltestelle verlegt, um ein Buswartehäuschen zu errichten und damit vor allem an Schlechtwettertagen Schutz zu bieten.» Ausserdem sind die Ratsmitglieder die Klassensprecher und setzen sich für die Anliegen der Mitschüler:innen ein, z.B. für den Austausch zwischen den Klassen, die Gestaltung einer Talentshow oder einen Workshop, bei dem sich die Schüler als Lehrer verkleiden.

Ein weiteres Schlüsselelement des Projekts ist die Vollversammlung, die vom Niderenrat vorbereitet wird: eine Zeit, in der alle Schüler, aufgeteilt in Gruppen, gemeinsam diskutieren, sich Fähigkeiten aneignen und konkret zum Leben in der Schule beitragen.

Eine Studie des Forschungsinstituts gfs.bernExterner Link (2023) hat die politischen Meinungen von 1’500 jungen Schweizerinnen und Schweizern im Alter von 15 bis 25 Jahren analysiert. Die Studie wurde im Auftrag des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente durchgeführt. Die Umfrage wird seit 2016 jährlich durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen besorgniserregende Anzeichen: 20% stimmten der Aussage zu, dass «eine starke Führung mit zentralisierten Befugnissen gut für ein Land ist», während 25% unsicher waren oder keine Antwort gaben.

Insgesamt stehen also 45% der jungen Menschen der Idee eines autokratischen politischen Führers entweder offen oder gleichgültig gegenüber. Dieser Trend wird durch eine weitere Statistik bestätigt: Für 31% ist es nicht wichtig, in einer Demokratie zu leben, solange es «allen gut geht»; 23% haben dazu keine Meinung. Gfs.bern unterstreicht den hohen Anteil der «weiss nicht»-Antworten als Zeichen eines wachsenden politischen Desinteresses.

Demokratieverdrossenheit vermeiden

«Es geht nicht nur darum, den Schülerinnen und Schülern eine Stimme zu geben, sondern auch darum, ihre Vorschläge ernst zu nehmen», betont Widmer. «Manchmal muss ich vermitteln, wenn Ideen auf den Widerstand der Lehrpersonen stossen. Man muss aufpassen, dass man nicht Frust schürt oder den Eindruck erweckt, es handle sich um eine kosmetische Demokratie.»

Genau das ist es, was viele Jugendliche in der Schweiz wahrnehmen, die wenig Vertrauen und Interesse in die Politik haben. Zum einen, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen, zum anderen, weil ihnen oft das nötige Wissen über die Funktionsweise der Demokratie fehlt.

Letzteres entspricht einer These, die durch eine internationale Studie zur staatsbürgerlichen Bildung (International Civic and Citizenship Education StudyExterner Link) gestützt wird, an der die Schweiz 2009 nur einmal teilgenommen hat. In der Studie schnitten Schweizer Jugendliche und junge Erwachsene in Bezug auf demokratische Kenntnisse und Fähigkeiten schlecht ab. Ein überraschender Wert für ein Land, das sich selbst oft als «Weltmeister der Demokratie» bezeichnet.

Doch in einem Land wie der Schweiz, in dem die Bürgerinnen und Bürger in einer weltweit einzigartigen Häufigkeit an die Urnen gerufen werden, ist die Fähigkeit, das öffentliche Leben zu verstehen, zu diskutieren und daran teilzunehmen, wichtiger denn je.

Es ist kein Zufall, dass die Schweizerische Bundesverfassung (Art. 41, Abs. 1gExterner Link) als das Bildungsziel ausdrücklich festlegt, Kindern und Jugendlichen durch Förderung ihrer kulturellen, sozialen und politischen Integration zu einer selbständigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit zu verhelfen. Und genau auf diese Ziele stützt sich eine Schulinitiative in der Westschweiz.

Montreux
Montreux, im Kanton Waadt. Keystone / Valentin Flauraud

Die Schule wird zur Stadt

Von Trogen aus geht es nach Montreux im Kanton Waadt, wo das Collège Rambert seit 2009 ein Projekt zur staatsbürgerlichen Erziehung organisiert: RambertvilleExterner Link. Alle drei Jahre, kurz vor den Sommerferien, verwandelt sich die Schule mit Blick auf den Genfersee für drei Tage in eine richtige Stadt.

Die Schülerinnen und Schüler eröffnen Restaurants, führen eine Bank mit eigener Währung, organisieren Konzerte, Nähwerkstätten, Fahrradwerkstätten, Aufführungen, Sport und wissenschaftliche Aktivitäten. «Rambertville gibt den Schülern das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, und stärkt die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, zwischen Schule, Familien und der lokalen Gemeinschaft», erklärt Gérald Yersin, pensionierter Lehrer und Förderer dieser Initiative.» Sie alle sind für die Organisation und Verwaltung der verschiedenen Aktivitäten verantwortlich.»

Tagsüber empfängt Rambertville Grundschüler:innen, abends ist es für die Öffentlichkeit geöffnet und zieht bis zu 1000 Menschen aus der Region an. Dieses Projekt ist jedoch viel mehr als nur eine Schulveranstaltung: Es ist ein echter Workshop zur staatsbürgerlichen Erziehung.

«Die Schüler lernen, was es heisst, ein Unternehmen zu führen, Zeitpläne einzuhalten, im Team zu arbeiten, mit unvorhergesehenen Ereignissen umzugehen, mit Fachleuten zusammenzuarbeiten, aber auch Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis», unterstreicht Lehrerin Yersin.

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Politische Bildung: oft zu viel des Guten

Die Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung fordert, jungen Menschen die Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, die sie benötigen, um «eine aktive Rolle im demokratischen Leben zu spielen, um die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und zu schützen». In einem Kontext wie dem heutigen, in dem zunehmend autokratische Tendenzen zu beobachten sind, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die neuen Generationen in der Lage sind, die politischen Ereignisse um sie herum kritisch zu analysieren.

Dazu brauchen sie aber ein entsprechendes Rüstzeug, das ihnen die Schulen vermitteln sollten, wie es in den Lehrplänen der verschiedenen Sprachregionen der Schweiz vorgesehen ist. Der Lehrplan 21 beispielsweise, der für 21 deutschsprachige und zweisprachige Kantone gilt, verlangt, dass die Schüler:innen die Funktionsweise demokratischer Institutionen erlernen und in der Lage sind, Informationen kritisch zu analysieren und sich eine Meinung zu politischen Fragen zu bilden.

Eine vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie hat jedoch eine Reihe von kritischen Aspekten aufgezeigt, wie z.B. die Tatsache, dass der politischen Bildung zu wenig Zeit und Ressourcen zugewiesen werden oder dass die Vermittlung von Wissen gegenüber der Entwicklung kritischer Fähigkeiten im Vordergrund steht. Deshalb könnten in der Schweizer Bildungslandschaft Projekte wie der Niderenrat in Trogen oder Rambertville in Montreux-West als inspirierende Modelle dienen – als Leuchttürme, an denen man sich orientieren kann, um für Demokratie und aktive Bürgerschaft zu erziehen.

«Oser l’échangeExterner Link» ist ein Tag, der der staatsbürgerlichen Erziehung gewidmet ist und von Movetia und proEdu organisiert wird. Die Veranstaltung fördert den Austausch bewährter Verfahren zwischen Schulen, Lehrpersonen und Expertinnen und bietet Raum für Dialog und interaktive Workshops. Im Mittelpunkt steht das Thema Partizipation und Vielfalt als Schlüsselelemente einer Schule, die aktive Bürgerschaft und demokratische Auseinandersetzung fördert.

Editiert von Daniele Mariani. Übertragung aus dem Italienischen: Giannis Mavris

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Bruno Kaufmann

Wie kann die Demokratiebildung an Schulen gestärkt werden?

Soll die politische Bildung in Sekundarschulen zu einem obligatorischen Fach werden? Nehmen Sie an der Diskussion teil.

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