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Locarno Film Festival begegnet Krieg und Katastrophen mit Kunst und Komik

Szene aus anarchischem Dracula Film
Radu Jude ist zurück: Die anarchische Version von «Dracula» des rumänischen Regisseurs ist dieses Jahr im Hauptwettbewerb von Locarno zu sehen. SagaFilm, Nabis Filmgroup, PTD, Samsa, MicroFilm

Das wichtigste Schweizer Filmfestival startet heute mit einem Programm, das zum Nachdenken über den Zustand der Welt anregt. Doch statt in depressive Stimmung zu verfallen, bietet es eine beachtliche Auswahl an Komödien.

Wie soll Kunst im Allgemeinen und Kino im Besonderen mit der wachsenden Zahl von Kriegsschauplätzen, humanitären Katastrophen und gesellschaftlichen Zusammenbrüchen umgehen? In diesem Jahr hat sich Giona A. Nazzaro, der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Locarno, für die wohl zivilisierteste Reaktion auf die Übel der Welt entschieden. Entgegen dem gängigen Trend sind sechs der 17 Filme im Hauptwettbewerb des Festivals Komödien. Doch der Humor in diesen Filmen ist oft düsterer und anarchischer Natur.

Komödien, Satiren oder ironische Betrachtungen der Welt finden sich auch in den anderen Filmsektionen. Ehrengast ist in diesem Jahr Jackie Chan, den Nazzaro als «Buster Keaton des modernen Kinos» bezeichnet. Chan ist in der Tat ein ikonischer Künstler, dem es in seiner über 50-jährigen Karriere gelungen ist, Drama, Komödie, Unterhaltung, Action und Kampfsport meisterhaft in jedem einzelnen seiner Filme zu verbinden.

Jackie Chan
Eine Ikone: Jackie Chan ist dieses Jahr Ehrengast, was mit dem 75. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Schweiz und der Volksrepublik China zusammenfällt. Invision

In Nazzaros Auswahl wird die Tragik jedoch nicht vollständig durch Lachen sublimiert. Zu sehen sind unter anderem Gaza, der Sudan und der Iran – um nur einige der aktuellen Schauplätze des Grauens in der realen Welt zu nennen. In diesem empfindlichen Gleichgewicht setzt Locarno auf die Relevanz des Kinos angesichts humanitärer Ohnmacht.

Den Krieg erwähnen

Während russische und ukrainische Filme gänzlich fehlen, ist Gaza sehr präsent und wahrscheinlich das heikelste Thema, dem man sich stellen kann.

Letztes Jahr gewann No Other Land, eine palästinensisch-norwegische Koproduktion eines palästinensisch-israelischen Kollektivs, den Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Berliner Filmfestspielen (Berlinale) sowie bei den Oscars. Dies löste nicht nur heftige Reaktionen der israelischen Regierung und Medien aus, sondern auch ihrer treuen Verbündeten in den USA und Europa. Dort ringen Politiker:innen und Medien noch immer darum, den Unterschied zwischen Antisemitismus und Kritik am israelischen Staat greifbar zu machen.

Die offizielle Wettbewerbssektion von Locarno scheute sich nicht vor dieser Herausforderung. Gezeigt werden dieses Jahr der palästinensische Spielfilm With Hasan in Gaza von Kamal Aljafari sowie der libanesische Film Tales of the Wounded Land von Abbas Fahdel. Nazzaro entschied sich ausserdem für den israelischen Film Some Notes on the Current Situation von Eran Kolirin. Der Film läuft ausser Konkurrenz («Fuori Concorso»), aber seine Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

eine Person schreit
Szene aus dem israelischen Film «Notes on the Current Situation»: ein einsamer Schrei nach Menschlichkeit in einer Gesellschaft, die ausser Kontrolle geraten ist. Dani Schneur

Kolirins Gesamtwerk ist, obwohl es bisher nur fünf Spielfilme umfasst, bereits sehr vielschichtig. Nach dem Drama The Band’s Visit (2007), das sich auf bittersüsse, aber dennoch optimistische Weise mit den Spannungen zwischen Araber:innen und jüdischen Menschen auseinandersetzte, nahmen seine folgenden Werke eine kritischere Haltung ein. So sehr, dass israelische Expert:innen in den Medien darüber diskutieren, ob Kolirin als LandesverräterExterner Link zu betrachten sei.

Die Alten, die Jungen und die Lustigen

Der in Berlin und vielen anderen europäischen Hauptstädten gefeierte rumänische Regisseur Radu Jude ist seit vielen Jahren eine feste Grösse in Locarno. 2023 faszinierte er das cinephile Publikum mit seinem grandiosen Do Not Expect Too Much from the End of the World, und letztes Jahr boten zwei seiner bescheidenen Kurzfilme köstliche Häppchen anarchischen Humors.

Nun kehrt er mit einer weiteren ambitionierten dramatischen Komödie in den Hauptwettbewerb zurück, einer dreistündigen trashigen Version von Dracula.

Rumänischer Humor ist auch im Hauptwettbewerb mit Ivana Mladenovićs Sorella di Clausura (Schwester im Kloster) vertreten; ein Zeichen der Anerkennung für die lebhafte und junge, wenn auch kleine Filmszene in Bukarest, für die Radu Jude eine Art älterer Bruder und Mentor ist.

Mladenović gehört zu einer Reihe spannender, aufstrebender Filmemacher:innen (u.a. Shô Miyake aus Japan und Julian Radlmaier aus Deutschland), die mit etablierten Regisseur:innen um den Goldenen Leoparden, den Hauptpreis von Locarno, wetteifern werden.

Neben Jude treten der tunesisch-französische Regisseur Abdellatif Kechiche (Mektoub, my Love: Canto Due), der Brite Ben Rivers (Mare’s Nest) und der Schweizer Fabrice Aragno (The Lake) an. Aragno war in den letzten Jahren kreativer Partner von Jean-Luc Godard, bevor er sich selbst als Filmemacher etablierte.

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Bild von Fabrice Aragno bei einer Preisverleihung.

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Kultur

Das Erbe von Jean-Luc Godard liegt in seinen Händen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Fabrice Aragno hat die letzten 20 Jahre seines Lebens mit Jean-Luc Godard zusammengearbeitet. Er erzählt, wie es ist, nach Godards Tod Filme zu machen.

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Die Sektion «Cineasti del Presente» ist der Hauptwettbewerb für Filmemacher:innen, die ihren ersten oder zweiten Spielfilm vorstellen. Sie hält mitunter die besten, aber auch die schlechtesten Überraschungen des Festivals bereit. Überraschungen gelingen bekanntlich am besten, wenn man keine Erwartungen hat.

Doch meistens schwimmen asiatische Filme obenauf. Das könnte auch bei dem südkoreanischen Film The Fin von Park Syeyoung, bei The Plant from the Canaries der in Berlin lebenden chinesischen Filmemacherin Ruan Lan-Xi und der französisch-belgisch-vietnamesischen Produktion Hair, Paper, Water… der Fall sein.

Das Erbe ist wichtig

Wie Nazzaro bei der offiziellen Vorstellung des Programms Anfang Juli in Zürich bemerkte, besteht eine der Hauptaufgaben eines guten Filmfestivals darin, gemeinsam mit den verschiedenen Filmarchiven, die oft in ebenso prekären Zuständen befinden, wie die Filmrollen in ihrer Obhut, das filmische Erbe zu bewahren.

Daher ist die Retrospektive von Locarno für das cineastische Publikum des Festivals immer ein Höhepunkt. In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf britischen Filmen der Nachkriegszeit (1945–1960), die vom British Film Institute und der Cinémathèque Suisse restauriert wurden.

Nicht nur in der Kategorie «Retrospektive» gibt es Filmgeschichte zu entdecken. Unter der Rubrik «Histoire(s) du Cinéma» (Geschichten des Kinos) würdigt das Festival herausragende Persönlichkeiten der Filmindustrie.

Die britische Schauspielerin Emma Thompson wird für ihr Lebenswerk mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet und mit einer Vorführung von Ang Lees Verfilmung von Jane Austens Sene & Sensibility (1995) gefeiert.

Die libanesische Produktionsfirma Abbout Productions wird ebenfalls mit Vorführungen von zwei ihrer repräsentativsten Spielfilme geehrt: Costa Brava, Lebanon von Mounia Akl (2021) und Memory Box von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige (ebenfalls 2021).

Männer stehen um einen Flipperkasten
Szene aus Simon Edelsteins «Les Vilaines Manières» (Schlechte Manieren, 1974), einem vergessenen Juwel des Schweizer Kinos, das dieses Jahr in Locarno gefeiert wird. Cinémathèque Suisse

Gewürdigt wird auch der Schweizer Regisseur Simon Edelstein, ein fast vergessener Name aus der Blütezeit frankophoner Autoren wie Alain Tanner, Claude Goretta und Michel Soutter.

Gezeigt werden ausserdem neue Fassungen europäischer Klassiker wie Roberto Rossellinis Anno Uno (1974) und Liliana Cavanis Das Jahr der Kannibalen (1969) sowie zwei Filme des griechisch-amerikanischen Regisseurs Alexander Payne (Sideways, 2004).

Rebellische Rhythmen

Jack Kerouac
Jack Kerouac in den 1950ern. Jerry Yulsman, Globe Photos, Zuma Press

Ausserhalb des Wettbewerbs und etwas versteckt im Programm verdienen zwei Dokumentarfilme besondere Erwähnung. Sie werden all diejenigen begeistern, die sich nach inspirierenden, rebellischen Zeiten der Gegenkultur sehnen.

Ebs Burnoughs Kerouac’s Road: The Beat of a Nation ist kein nostalgischer Rückblick auf das ikonische Leben und Werk von Jack Kerouac, sondern ein Versuch, anhand von Gesprächen mit zeitgenössischen Schriftstellern und Künstlern zu beurteilen, welche Auswirkungen Kerouacs Meilenstein On the Road (1957) bis heute in den Vereinigten Staaten hat.

In ähnlicher Weise lässt der Dokumentarfilm Nova’78 die elektrisierende NOVA-Konferenz von 1978 wiederaufleben, die Kerouacs Schriftstellerkollege und Freund William S. Burroughs in New York ins Leben gerufen hatte. Mit Auftritten von Laurie Anderson, Patti Smith, Frank Zappa und vielen anderen ist er eine Zeitkapsel, die auch ein paar Einblicke in unsere aktuelle Lage verspricht und Kunst, Poesie und Lachen gegen Bigotterie und Intoleranz ins Feld führt.

William S. Burroughs
Der amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs in einer Szene aus dem Dokumentarfilm NOVA’78. Zusammen mit Kerouac und dem Dichter Allen Ginsberg gilt er als einer der wichtigsten Vorläufer der Gegenkultur der 1960er-Jahre. Howard Brookner Estate

Editiert von Mark Livingston/ds; Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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