Milo Rau: Demokratie ist ein Forum für all die, die nicht kriminell sind
Am Internationalen Tag der Demokratie spricht der umstrittenste Theaterregisseur der Schweiz über das "Ritual" der Volksabstimmung und wie es weltweit mit der politischen Partizipation aussieht.
Milo Raus Theater, eine grenzüberschreitende Mischung aus Realität, Kunst und Aktivismus, hat ihn in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Regisseure Europas gemacht. Gleichzeitig ist Rau ein aufmerksamer Beobachter der globalen Politik, dessen Ansatz oft von Experimenten der radikalen Inklusion geprägt ist. SWI swissinfo.ch sprach mit dem Leiter der Wiener Festwochen über Demokratie – in ihren direkten, illiberalen und theatralischen Formen.
SWI swissinfo.ch: Sie haben in den letzten zehn Jahren in Italien, im Kongo, in Russland, Belgien und Brasilien gearbeitet. Derzeit sind Sie künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen und leben in Deutschland. Füllen Sie immer noch viermal im Jahr einen Briefwahlzettel aus, um in der Schweiz zu wählen?
Milo Rau: Ja, ich bestehe darauf. Ich denke, dass das System der Schweizer Abstimmungen eine Verbindung zwischen lokaler und nationaler Ebene herstellt, wie es in den meisten anderen Ländern nicht der Fall ist. Anderswo neigen die Menschen dazu, im Interesse ihres eigenen kleinen Dorfes abzustimmen, selbst wenn die Abstimmung national ist.
So mag die von Populisten wie der Freiheitlichen Partei in Österreich FPÖ oder der Alternative für Deutschland AfD vertretene Version des Protektionismus auf lokaler Ebene sinnvoll sein, nicht aber auf nationaler Ebene. In der Schweiz sind wir dank der viermaligen Stimmabgabe pro Jahr besser in der Lage, zwischen diesen Ebenen zu wechseln.
Sie haben kürzlich gesagt, die Schweiz sei ein «Modell für eine funktionierende Demokratie». Warum?
In der Schweiz können normale Menschen wie ich über Dinge entscheiden, die in anderen Ländern in den Händen von Expert:innen liegen. Aber das wirklich Schöne ist, dass nach einer Abstimmung, egal ob es um die Abschaffung der Armee oder die Begrenzung der Managergehälter geht, alle das Ergebnis akzeptieren. In diesem Sinne sind Abstimmungen extrem antagonistische, aber auch verbindende Rituale.
Das ist bezeichnend für die Grösse und Vielfalt der Schweiz, wo die Nation über den verschiedenen Regionen, Sprachen und Kulturen aufgebaut ist. Aber es ähnelt auch dem antiken Athen, dessen Stärke darin bestand, dass die Bürger, wenn sie sich für etwas entschieden hatten, gemeinsam vorwärts gingen und danach handelten.
Sie haben die regelmässigen Abstimmungen auch als «quasi kathartisch» bezeichnet. Aber ist das Ritual der Abstimmung nicht weniger wichtig als das eigentliche Ergebnis?
Ich denke, hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem, was Populisten wie die FPÖ in Österreich unter direkter Demokratie verstehen, und dem, was direkte Demokratie tatsächlich ist. In der Realität muss das Ergebnis einer Abstimmung über Institutionen – Parlament und Experten – umgesetzt werden, bevor es Gesetz wird. Das bedeutet, dass vieles nicht genau so umgesetzt wird, wie es die Wähler:innen beschlossen haben; Dinge, die den Menschenrechten zuwiderlaufen, werden gar nicht umgesetzt.
Deshalb ist das kathartische Element so wichtig: Die Menschen kommen zu Wort und werden gehört, als Teil eines Moments, in dem der Wille des Volkes – oder, wie sich gewöhnlich herausstellt, gesellschaftliche Widersprüche – manifest wird.
Die FPÖ und die Schweizerische Volkspartei SVP stehen der Europäischen Menschenrechtskonvention sehr kritisch gegenüber, da diese ihrer Meinung nach den Volkswillen untergräbt. Gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen lokaler Demokratie und internationalen Rechten?
Ich denke, dieses Spannungsverhältnis ist Teil jedes grossen Projekts – auch des Aufbaus einer Nation. Es ist die alte Frage nach dem Gleichgewicht zwischen dem liberalen Ansatz, Gesetze und Institutionen zu schaffen, und dem eher an Rousseau angelehnten Fokus auf den allgemeinen Willen des Volkes.
Deshalb gibt es in der Schweiz auch zwei Parlamentskammern und eine doppelte Mehrheit für Volksinitiativen, was bedeutet, dass eine kleine Anzahl von Menschen eine weit verbreitete Idee zu Fall bringen kann. Und auf internationaler Ebene schützen Menschenrechtsinstitutionen Minderheiten vor fehlgeleiteten populistischen Entscheidungen.
Insgesamt geht es darum, ein Gleichgewicht herzustellen. Das grosse Problem sehe ich hier auf der Ebene der Europäischen Union, wo es zwar sehr starke Institutionen gibt, aber keine Möglichkeit für die Bürger, diese zu beeinflussen. Eine Stärkung der direkten Demokratie auf EU-Ebene würde viele der Klischees von der EU als technokratisches Eliteprojekt ausräumen.
Ihr Lob für die Schweizer Demokratie klingt angesichts einiger Ihrer früheren Ausagen überraschend. In einem Interview aus dem Jahr 2015 sagten Sie, das Land sei «zutiefst moralisch krank», mit Verweis auf seinen Populismus, Kapitalismus und seine Insularität.
In der globalen Wirtschaft sind die meisten europäischen Nationen immer noch moralisch krank. Die Schweiz ist nur ein extremes Beispiel. Steuergelder kommen von Unternehmen wie Nestlé und Glencore, die auf einer radikalen Ausbeutung des globalen Südens basieren, und wir alle tolerieren das. Der «moralisch kranke» Aspekt ist das Bestreben des Landes, seinen Status als Zufluchtsort für solche Firmen zu erhalten.
Aber das ist jenseits der Diskussion über das demokratische System, das zumindest Möglichkeiten bietet, solche Dinge zu ändern. Das ist so, als würde man die Arbeit eines grossen Künstlers loben, der sich inmitten eines MeToo-Skandals befindet.
Im Jahr 2024 nehmen weltweit mehr Menschen als je zuvor an Wahlen teil, doch Autokraten wie Wladimir Putin und Nicolás Maduro festigen ihre Macht. Ist die globale Demokratie dem Untergang geweiht?
Das ist schwer zu sagen. Die Demokratie ist schon oft gescheitert. Die Vorstellung, dass sie immer da war, aber jetzt verschwindet, ist eine sehr falsche Sichtweise. Ich bin in der optimistischen Zeit nach 1989 aufgewachsen, einem historischen Höhepunkt, als die liberale Demokratie scheinbar auf dem Weg zum weltweiten Triumph war.
Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Geschichte. Heute denke ich, dass es gut ist, ein wenig pessimistisch zu sein und gleichzeitig für die Demokratie zu kämpfen.
Selbst autokratische Populisten wie Maduro behaupten, sie würden für den Willen des Volkes kämpfen.
Die Demokratie kann ihre Form ändern: in eine gelenkte Demokratie, eine populistische Demokratie oder in eine sehr institutionalisierte oder exklusive Form. Die Frage ist also, wie man sie an die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, anpassen kann.
Im Moment gibt es dazu gegensätzliche Ansichten. Die Populisten wollen eine radikal direkte Version, die aus der Sicht von Rousseau die perfekte Form zu sein scheint. Und sie behaupten, die Retter der Demokratie zu sein, wenn sie dafür eintreten. Aber wenn ich ihre Ideen von einem eher liberalen Standpunkt aus beschreiben sollte, würde ich sagen, dass sie die Demokratie abbauen – indem sie zum Beispiel bestimmte Gruppen ausschliessen.
Sie haben dieses Jahr versucht, die Wiener Festwochen zu demokratisieren, indem Sie sie in eine «Freie Republik» umstrukturiert haben – eine Art Basisdemokratie mit Bürgerräten und einer Verfassung. War das Ziel, ein elitäres Festival zu entstauben oder eine symbolische Form zu schaffen, um ein Beispiel für Demokratie jenseits des Theaters zu setzen?
Beides. Intern geht es darum, die Partizipation zu erweitern – auch hier gilt es, die Balance zwischen Expertenkuratierung und Publikumswillen zu finden. Und auf der breiteren, symbolischen Seite hat unsere Analyse, warum sich das Festival in den letzten Jahren vom Publikum abgekoppelt hatte, gezeigt, dass zwar jedes Jahr viele Karten verkauft wurden, die aber hauptsächlich an die gleiche kleine Gruppe von Theaterbesuchenden.
Die Frage, wie man dies ändern kann – zum Beispiel durch eine Senkung der Eintrittspreise – kann dazu beitragen, darüber nachzudenken, wie man die Hürden für die Teilnahme an der Demokratie im Allgemeinen senken kann.
Auf dem Festival gab es auch einen Scheinprozess gegen die rechtsgerichtete FPÖ, die laut Umfragen bei den österreichischen Wahlen in diesem Monat die stärkste Partei werden könnte. Entfremden Debatten über das Verbot bestimmter politischer Gruppen nicht grosse Teile der Bevölkerung?
Die Idee, mit bestimmten Gruppen nicht zu sprechen, ist absurd. Wenn jemand nicht kriminell ist, dann ist er Teil der Diskussion. Vielleicht ist das der Kern der Demokratie: einen freien Raum der Diskussion zu haben, eine Agora, für alle, die nicht kriminell sind.
Wenn eine Partei wie die AfD oder die FPÖ als verfassungsfeindlich eingestuft wird, sollte sie natürlich verboten werden – auch wenn der Wiener Musterprozess nicht zu diesem Urteil gekommen ist. Aber das würde nicht bedeuten, dass man ihre Anhängerschaft einfach ausschliesst, indem man sagt, sie seien alle Rassisten oder Faschisten.
Was bedeutet es für die österreichische Demokratie, wenn die FPÖ Ende September in irgendeiner Form wieder in die Regierung kommt?
In einem konkreten Szenario könnten drei Parteien – die FPÖ, die Sozialdemokraten und die Volkspartei – jeweils etwa 30 % der Stimmen erhalten, wobei die FPÖ vielleicht leicht vorne liegt. Die Probleme könnten dann beginnen, wenn die Volkspartei eine Koalition mit der FPÖ eingeht und FPÖ-Chef Herbert Kickl Bundeskanzler wird; in diesem Fall könnte er beginnen, die Institutionen direkt zu beeinflussen. Und Österreich würde beginnen, den slowakischen oder ungarischen illiberalen Weg zu gehen.
Ich habe übrigens kürzlich einen offenen BriefExterner Link gegen das Wahlprogramm der FPÖ geschrieben. Abgesehen davon, dass die Partei die Kulturförderung kürzen will, ist sie in Fragen wie Migration und Gender einfach so hart rechts: Sie weiss, je extremer sie ist, desto beliebter ist sie. Ich fürchte, die Menschen sind inzwischen so desensibilisiert, dass sie das nicht mehr sehen.
Sie haben kürzlich auch einen offenen BriefExterner Link geschrieben, in dem Sie die Entlassung des Direktors des Slowakischen Nationaltheaters kritisieren. Warum all diese offenen Briefe?
Das ist ein Hobby, deshalb ist es schwer, damit aufzuhören! Aber ich sehe zwei Arten von offenen Briefen. Zum einen geht es darum, auf Dinge aufmerksam zu machen, die nicht allgemein bekannt sind. Zum Beispiel haben viele ausserhalb der Slowakei nicht mitbekommen, was dort vor sich geht, da das Land kein grosser Akteur im europäischen Kultursektor ist. Es ist nicht so, wie wenn der Direktor des Nationaltheaters in Deutschland oder Frankreich vom Kulturminister des Landes aus politischen Gründen entlassen wird; dort würden die Leute davon erfahren.
Was den Brief gegen die FPÖ betrifft, so ist das eine Möglichkeit, uns vorzubereiten und uns bewusst zu machen, was passieren könnte, wenn die Partei die grösste in Österreich wird und in eine Regierungskoalition eintritt.
Was ist heute die grösste Herausforderung für die Demokratie?
Für mich besteht die grosse Herausforderung – und die einzige Lösung – darin, in immer grösseren und immer globaleren Gemeinschaften zu denken. Im letzten Jahrhundert dachten wir, die Nationalstaaten würden allmählich an Bedeutung verlieren, aber das Gegenteil ist eingetreten. Die Staaten sind stärker geworden, und gleichzeitig verliert die befreiende Kraft der Demokratie an Kraft, weil sie so sehr an das Konzept der Nation gebunden ist – wie der Wohlfahrtsstaat.
Editiert von Benjamin von Wyl. Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris. Bildrecherche: Vera Leysinger
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