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E-Collecting: Eine Vitaminspritze für Italiens Demokratie

Abstimmungslokal in Italien
Abstimmungslokal in Italien, 8. Juni 2025. Keystone / Claudio Furlan

In den letzten vier Jahren sind in Italien über hundert Volksinitiativen und Gesetzesreferenden auf der nationalen Ebene lanciert worden. Ein wichtiger Grund dafür sind die Einführung einer E-ID und einer staatlichen Plattform fürs elektronische Unterschriftensammeln. Wichtige Hürden aber bleiben bestehen.

Wer in Italien eine Volksinitiative oder ein Gesetzesreferendum auf den Weg und zum Erfolg bringen wollte, brauchte lange nicht nur ein starke Organisation mit vielen Helfer:innen im Rücken, sondern auch ein gut gefülltes Portemonnaie.

«Jede einzelne Unterschrift musste von einem Notar beglaubigt und anschliessend durch die Wohngemeinde amtlich zertifiziert werden», erinnert sich Riccardo Fraccaro. Der 44 Jahre alte Jurist aus Trento in Norditalien diente 2018 und 2019 fünfzehn Monate lang als weltweit bislang erster und einziger Minister für Direkte Demokratie im Kabinett von Ministerpräsident Giuseppe Conte und versuchte als solcher, verschiedene Einschränkungen und Hürden der Volksrechte im südlichen EU-Land abzubauen.

Porträt eines Mannes mit Krawatte
Riccardo Fraccaro war der erste und bisher einzige nationale Minister für direkte Demokratie weltweit. Alessandra Tarantino / Keystone

Dabei gehört Italien neben der Schweiz und Liechtenstein zu den fleissigten Nutzer:innen direktdemokratischer Instrumente auf der nationalen Ebene: In den letzten 50 Jahren fanden in Italien 88 landesweite Volksabstimmungen statt, welche durch die Bürger:innen mittels Unterschriftensammlungen ausgelöst worden sind. Und dies trotz einer Vielzahl rechtlicher und bürokratischer Hürden, welche «durch die Verfassungsväter unter dem Eindruck der faschistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges in das Grundgesetz geschrieben wurden», sagt Fraccaro. Mit Quoren sowohl bei Volksabstimmungen über Gesetze wie auch für Verfassungsänderungen im Parlament sollte die neue demokratische Republik gegen Übernahmeversuche etwa durch die kommunistische Partei abgesichert werden.

Seit vielen Jahren wird auch in der Schweiz, wo die direktdemokratischen Volksrechte noch öfters genutzt werden als in Italien, über die Einführung einer digitalen Identität (E-ID) und die Möglichkeit elektronischer Unterschriftensammlungen für Initiativen und Referenden diskutiert. Ein erster Versuch für die Zulassung einer E-ID scheiterte im Frühjahr 2021 in einer Volksabstimmung mit 64.4% Nein-Stimmen noch klar. Datenschutzbedenken und Ängste vor kommerzieller Nutzung der Identitätsdaten gaben des Ausschlag. Nun steht am 28. September eine überarbeitete Vorlage zur Abstimmung, die eine E-ID-Herausgabe – ähnlich wie in Italien – auf staatliche Stellen beschränkt.

Die E-ID gilt nicht nur als Türöffner des vor allem von Auslandschweizerorganisationen immer wieder geforderten E-Voting sondern auch des E-Collecting. Der Ruf nach digitalen Möglichkeiten der Unterschriftensammlung ist in der Schweiz in den letzten Monaten zudem durch einen Skandal um die systematische Fälschung von Unterschriftenbögen verstärkt worden. Im Juni 2025 verabschiedete das Parlament mehrere Motionen, welche das digitale Sammeln von Unterschriften nach Einführung der E-ID im Jahre 2026 ermöglichen soll.

Trotzdem erlebt die direkte Demokratie gegenwärtig eine neue Blütezeit: Seit 2021 sind in Italien über 100 Volksinitiativen und Gesetzesreferenden lanciert worden. Und das zu so verschiedenen Themen wie die Legalisierung von Cannabis, die Einführung direkter Präsidentschaftswahlen, die Abschaffung der Jagd, die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe wie auch eine Reorganisation des Föderalismus, Entkriminalisierung der Prostitution oder friedensfördernde Massnahmen in der Ukraine und im Nahen Osten.

«Wir stellen fest, dass sich traditionell eher politikferne Gruppen wie junge Menschen und Migrant:innen verstärkt engagieren», sagt Lorenzo Cabulliese im Gespräch mit Swissinfo. Der Historiker leitet den Turiner Demokratie-Think Tank «Gaetano Salvemini» und analysiert die Nutzung partizipativer und direkt-demokratischer Verfahren auf der lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebene.

Ein Mann auf einer Strasse in Italien
Lorenzo Cabulliese vom Think Tank «Gaetano Salvemini» in der Turiner Innenstadt. SWI swissinfo.ch / Bruno Kaufmann

Laut Cabulliese haben drei Beschlüsse zu dieser direktdemokratischen Dynamik beigetragen: Im Jahr 2019 massregelte der UNO-Menschenrechtsausschuss Italien wegen seiner bürokratischen Hürden bei den Volksrechten, 2021 beschloss das Parlament die Einführung des E-Collecting und 2024 eröffnete die Regierung in Rom eine kostenlose staatliche Plattform für Unterschriftensammlungen.

«Damit hat nun jede und jeder Stimmberechtigte Zugriff auf diese grundlegenden Rechte der Mitbestimmung», hält Cabulliese fest und nennt noch eine weitere Voraussetzung, die neu auch Menschen mit einer Behinderung einen gleichberechtigten Zugang zu den politischen Rechten ermöglicht: die digitale Identität, kurz SPIDExterner Link («Sistema Pubblico di Identità Digitale») genannt. Eine solche wurde in Italien als einem der ersten Länder der Welt bereits im Jahre 2015 eingeführt und ist seither technisch kontinuierlich weiterentwickelt worden.

grafik über nationale volksabstimmungen in verschiedenen Länderen
Swissinfo

Die digitale Vitaminspritze der letzten Jahre hat nicht nur die italienische Demokratie belebt, sondern auch eine öffentliche Diskussion über die Volksrechte im Land ausgelöst: «Denn die Rahmenbedingungen unserer Demokratie haben sich seit dem Inkrafttreten unserer republikanischen Verfassung stark verändert», betont Oskar Peterlini, der an der Freien Universität Bozen Verfassungsrecht lehrt.

«Bei der Volksabstimmung über die Abschaffung der Monarchie nahmen 1946 fast 90% der Stimmberechtigten teil», sagt Peterlini. Für die Gültigkeit von Volksabstimmungen wurde nachfolgend die Bestimmung eingeführt, dass neben der einfachen Ja-Mehrheit auch die Beteiligung von mindestens 50% der Stimmberechtigten erforderlich ist: «Heute nutzen deshalb die Gegner:innen einer Vorlage diese Bestimmung dafür, diese durch Boykottaufrufe und demonstrative Nicht-Beteiligung zum Scheitern zu bringen», stellt Peterlini fest.

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So erging es Mitte Juni auch den ersten vor allem dank elektronischen Unterschriften zustandegekommenen «abschaffenden Referenden» nicht besser: Die fünf Vorlagen zu Arbeitsmarktreformen und einer erleichterten Einbürgerung erreichten zwar alle solide Ja-Mehrheiten, scheiterten jedoch am 50%-igen Beteiligungsquorum. Dies nachdem die rechtsnationale Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nicht – wie viele ihrer Vorgänger:innen – zum Boykott des Urnengangs aufgerufen hatte, sondern im Blitzlichtgewitter der Fotograf:innen ein Abstimmungslokal in Rom besuchte, um demonstrativ auf eine Abgabe des Stimmzettels zu verzichten.

Leute in einem Abstimmungsbüro
Die italienische Ministerpräsidentin bei der Nicht-Stimmabgabe im Abstimmungslokal Handout Palazzo Chigi / Filippo Attili

Als direkte Reaktion auf die ministerpräsidentielle Provokation lancierten Volksrechte-Befürworter:innen noch am gleichen Tag eine Online-Volksinitiative zur Abschaffung des BeteiligungsquorumsExterner Link – und reichten diese bereits einen Tag später mit weit mehr als den für dieses Instrument erforderlichen Unterschriftenzahl von 50’000 Unterschriften ein. Ob dieser Vorstoss Erfolg haben wird, ist offen. Nun muss das Parlament in Rom über die Vorlage beraten, wobei – so der Turiner Historiker Lorenzo Cabulliese – kaum mit einer ernsthaften Debatte zu rechnen ist. Denn eine eingereichte Volksinitiative an das Parlament könne dort – im Unterschied zu «abschaffenden Referenden» – gemäss geltender Geschäftsordnung an einen Ausschuss delegiert und ignoriert werden, betont er.

Kompromissvorschlag: «Halbes Quorum, doppelte Unterschriftenzahl»

Nach Ansicht von Oskar Peterlini, der selbst als Vertreter für die konservative Südtiroler Volkspartei einige Jahre im italienischen Senat sass, könnte ein künftiger Kompromiss darauf hinauslaufen, dass das Beteiligungsquorum halbiert und die erforderliche Unterschriftenzahl verdoppelt würde. Das hiesse: Eine Volksabstimmung wäre schon bei einer Mindestbeteiligung von 25% (statt wie heute 50%) gültig, während es für ein «Gesetzesreferendum» neu eine Million (statt wie heute eine halbe Million) Unterschriften bräuchte. Bei gut 50 Millionen Stimmberechtigten entspräche dies knapp 2% der Stimmberechtigten. Das wäre dann jener Anteil der Stimmberechtigten im Land, den es auch in der Schweiz für eine gültige Volksinitiative für eine Verfassungsänderung braucht.

Editiert von Mark Livingston

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