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Lausannes rassistisch unterwanderte Polizei – ein Einzelfall?

Polizei Lausanne Chatnachrichten
Schockiert: Vertreter der Stadt Lausanne und der Lausanner Polizei informieren über die rassistischen Polizei-Chats. Keystone / Gabriel Monnet

Erstmals ist öffentlich dokumentiert, dass in einem Schweizer Polizeikorps eine diskriminierende Kultur und systematischer Rassismus herrschte. Ist Lausanne ein Einzelfall?

Die Chatnachrichten von Mitgliedern der Lausanner Polizei umfassen das gesamte Spektrum möglicher Feindbilder: Dazu gehören rassistische Nachrichten, sexistische «Witze», homophobe Äusserungen sowie Verherrlichungen des Nationalsozialismus oder des Ku-Klux-Klans. Und Spott über Behinderte.

Dass diese Posts diese Woche ans Licht kamen, ist der gründlichen Arbeit der Staatsanwaltschaft zu verdanken. Es begann mit einem Foto. Darauf posiert ein Lausanner Polizist vor einem Graffiti. «RIP Mike» steht an der Wand. Das Graffiti erinnert an Mike Ben Peter, der 2018 bei einem gewaltsamen Polizeieinsatz zu Tode gekommen war.

Jeder zehnte Polizist machte mit

Der Polizist hebt vor dem Schriftzug den Daumen. Mike Ben Peter stammte aus Nigeria und war dunkelhäutig.

Lausanne Polizei Rassismus
Anlass zur Untersuchung: Verstörendes Selfie eines Lausanner Polizisten. RTS

Nachdem RTS das Foto verbreitet hatte, schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein. Sie beschlagnahmte das Handy des Polizisten. Darauf stiess sie auf die polizeiinternen Chats, in denen 48 Mitglieder, alles Angehörige der Lausanner Polizei, aktiv waren. Das entspricht einem Zehntel des gesamten Korps.

Dass innerhalb dieses Korps eine problematische Subkultur herrschte, war für viele ein offenes Geheimnis. Frédéric Maillard ist Polizeiexperte und hat über Jahrzehnte Konzepte für die Polizeiausbildung entwickelt. Gegenüber RTS sagt er: «Seit 2005 weise ich auf Missbräuche und Rassismus innerhalb der Polizei von Lausanne hin. Bisher hat es an Beweisen gefehlt.»

Maillard begleitet die Polizei Lausanne bei der inzwischen eingeleiteten Transformation. Denn das aktuelle Kommando hat das Ausmass der unerwünschten Kultur erkannt und Schritte eingeleitet.

«Alle wussten es, niemand denunzierte»

Frédéric Maillard spricht von einer Minderheit, die über zwei Jahrzehnte hinweg aktiv war. «Alle wussten oder vermuteten es», erzählt er. Doch keines der Chat-Mitglieder habe ein anderes denunziert. Es herrschte Omertà, das Gesetz des Schweigens.

«Das ist extrem schockierend», sagt Olivier Botteron, Kommandant der Lausanner Polizei. «Diese Botschaften stehen im Widerspruch zu all unseren Werten.» Vier Polizisten sind bereits suspendiert, weitere sollen folgen.

Ist Lausanne ein Einzelfall? Oder ist struktureller Rassismus innerhalb der Polizei in der Schweiz weit verbreitet? «Ich kann mir vorstellen, dass auch andere Polizeikorps in der Schweiz in sich gehen müssen», schätzt Experte Maillard gegenüber RTS.

Gleichzeitig warnt er davor, aus Lausanne allzu einfache Schlüsse zu ziehen. «Einige Polizisten, die intern abweichen, verhalten sich nach aussen hin vorbildlich.» Er fügt hinzu: «Ja, es gibt Racial Profiling, aber dieses ist nicht zwingend mit diesen Chats verbunden.»

Anfang 2024 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz. Grund dafür war eine Kontrolle der Zürcher Stadtpolizei im Jahr 2015. Diese habe gegen das Diskriminierungsverbot verstossen und sei menschenrechtswidrig gewesen. Der Fall um Mohamed Wa Baile ist ungewöhnlich, weil er dank eines Unterstützungskomitees mit aller Kraft bis in die höchste Instanz verfolgt wurde. Viele Betroffene melden aber ihre Erfahrungen gar nicht erst – zu übermächtig scheint ihnen der Justizapparat.

Ein anderer vielbeachteter Fall geht auf das Jahr 2009 zurück. Damals wurde der herzkranke, dunkelhäutige Wilson A. in einem Zürcher Tram kontrolliert und unzimperlich festgehalten. Der Fall beschäftigte Schweizer Menschenrechtsorganisationen und Medien über Jahre. 2024 stellte das Zürcher Obergericht fest, dass die Kontrolle kein «Racial Profiling» war.

Maillards Äusserungen scheinen zu bestätigen, was Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty InternationalExterner Link und Humanrights.chExterner Link, aber auch die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKRExterner Link), eine ausserparlamentarische und unabhängige Kommission aus Fachleuten, seit Jahren anprangern.

Racial Profiling wird der Polizei auch in der Schweiz immer wieder vorgeworfen. Der Begriff umschreibt diskriminierende Kontrollen von Sicherheitskräften sowie deren Eingriffe aufgrund von äusserlichen Merkmalen – und nicht aus Verdachtsmomenten.

Wirkt sich systemischer Rassismus in der Praxis aus? 

In den letzten Jahren haben auch internationale Gremien wegen diskriminierender Polizeipraktiken mit dem Finger auf die Schweiz gezeigt. So tat dies die Europäische Kommission gegen RassismusExterner Link und Intoleranz (ECRI) 2019 und unabhängige UN-ExpertenExterner Link äusserten 2022 erneut ihre Besorgnis.

2023 hat der Bund eingeräumt, dass struktureller Rassismus in der Schweiz «eine Realität» sei. In einem ausführlichen BerichtExterner Link weist die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) darauf hin, dass die Polizei einer der Bereiche ist, in denen Rassismus zum Ausdruck kommt.

Polizei Lausanne Rassismus
War es Racial Profiling? Demonstration nach dem Tod von Michael im Mai 2025 in Lausanne. Dieser starb nach einer Polizeikontrolle im Polizeigebäude von Lausanne. Keystone / Valentin Flauraud

Der Bericht hebt insbesondere das Problem der «diskriminierenden Polizeikontrollen», also des Racial Profilings, hervor. Dazu heisst es: «Die Kontrolle aufgrund des Aussehens ist insofern struktureller Rassismus, als sie Machtverhältnisse, Stereotypen und gängige Praktiken miteinander verbindet.» Es handele sich dabei nicht um ein Randphänomen, heisst es weiter.

Immer mehr Fälle gemeldet

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus fasst in ihren BerichtenExterner Link die Vorfälle zusammen, die jedes Jahr von einem Netzwerk aus rund zwanzig Beratungsstellen für Opfer von Rassismus aus der ganzen Schweiz gemeldet werden. Die Zahlen steigen von Jahr zu Jahr, was auch darauf hindeuten könnte, dass immer mehr Vorfälle gemeldet werden.

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Die Zahlen vermitteln auch einen Eindruck von der Art der Fälle.

Von den mehr als 1200 gemeldeten Fällen rassistischer Diskriminierung im vergangenen Jahr (+40 % innerhalb eines Jahres, die meisten davon in privaten Organisationen) betrafen 116 Fälle, also fast jeder zehnte, die Ordnungskräfte – darunter 76 Fälle die Polizei. Etwa 60 Vorfälle betrafen Racial Profiling – fünf Prozent aller gemeldeten Fälle.

Laut anderen Statistiken des Bundesamtes für Statistik (BFS) gaben 7 % der Opfer rassistischer Diskriminierung an, dass ein polizeilicher Kontext vorlag.

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Einige Gruppen sind besonders betroffen

In ihrem Bericht über die Schweiz aus dem Jahr 2019 stellte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) fest, dass Vorwürfe wegen polizeilicher Übergriffe insbesondere «Menschen mit einem nomadischen Lebensstil» wie Jenische und Roma sowie Schwarze betrafen. Diese seien «besonders von Polizeikontrollen betroffen, die oft mit Festnahmen und Leibesvisitationen auf der Suche nach Drogen einhergingen».

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Die UN-Experten zeigten sich ebenfalls alarmiert über die Behandlung von Menschen afrikanischer Herkunft durch die Strafverfolgungsbehörden und das Justizsystem in der Schweiz. Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes präzisiert, dass «die Hautfarbe der entscheidende Faktor» sei und Racial Profiling somit auch Personen betreffe, die als Asiaten oder Muslime wahrgenommen werden.

Keine Auskünfte

Swissinfo wollte erfahren, welche Masssnahmen in Ausbildung, Rekrutierung und Organisationsentwicklung in Kraft sind, um eine toxische Subkultur wie jene in Lausanne zu verhindern.

Dazu haben wir mehrere Polizeikorps, zwei Direktoren von Polizeischulen sowie die Konferenz der kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten der Schweiz kontaktiert. Am Tag nach den Enthüllungen in Lausanne war jedoch niemand bereit, darüber Auskunft zu geben.

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Editiert von Marc Leutenegger

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