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Freizügigkeit: Ausflaggen und Sklavenhandel

Sollen mit zypriotischer Zulassung fahren: LKW von Kobernuss. www.kobernuss.de

Deutsche verlegen Firmen nach Zypern, um Billig-Löhner anheuern zu können. Die Mafia schleust dank Dienstleistungs-Freiheit moderne Sklaven ins Land.

Die Schweiz sieht sich vor solchen Auswüchsen der EU-Verträge allerdings gut geschützt.

Wolfsburg schwitzt: Auf dem Mittellandkanal kreuzt ein 50-Meter-Ladeschiff träge ein Segelboot, die Betriebsferien im Bundesland Niedersachsen haben eben begonnen, die Maschinen in der riesigen Volkswagen-Fabrik stehen still. Wenn Karl Kixmöller aus dem Fenster schaut, sieht er die vier gigantischen Schlote über der Stadt aufragen.

Viel Zeit, die Aussicht zu geniessen, hat der Fachbereichssekretär der Vereinten Dienstleistungs-Gewerkschaft (ver.di) aber nicht. Auf seinem Pult stapelt sich das Papier, dazwischen stehen zwei Telefone und kleine ver.di-Lastwagen-Modelle, die Zigaretten drückt er in einem ver.di-Aschenbecher aus. Kixmöller hat ein Problem: Er bangt um die Jobs von deutschen LKW-Fahrern.

Übergangsbestimmungen greifen nicht

“Wenn man auf der Autobahn A2 nach Osten fährt, hat man Glück, wenn jeder fünfte Lastwagen noch ein deutsches Nummernschild trägt.” Denn die deutschen Fahrer sind teurer als ihre Konkurrenz. Immer öfter werden billigere Fahrer aus Lettland, Estland, Litauen, Polen aber auch Weissrussland und der Ukraine eingesetzt.

Etwas Schutz bieten dem deutschen Transport-Markt künstliche Wettbewerbs-Richtlinien wie die Kabotage-Beschränkung. Sie sollen einen langsamen Ausgleich der Konkurrenz-Bedingungen zwischen alten und neuen EU-Ländern schaffen.

Ausländische Fahrer dürfen demnach nur grenzüberschreitende Fahrten und keine innerhalb von Deutschland durchführen. Das gilt für baltische Fahrer bis mindestens am 30.04.2006, für polnische bis zum selben Datum ein Jahr später.

Ausflaggen nach Zypern

Für drei der zehn neuen EU-Staaten gelten aber keine Einschränkungen: Zypern, Malta und Slowenien. Jetzt überlegen sich deutsche Spediteure, ihr Geschäft in eines dieser Länder zu verlegen. Ausflaggen nennt sich das.

Am schnellsten reagiert hat Hubert Kobernuss aus Niedersachsen. Der Spediteur mit 70 LKW hat eine Tochter-Firma auf Zypern gegründet. Jetzt kann der Unternehmer Fahrer aus Osteuropa einsetzen – auch für Transporte in Deutschland.

Diese sind laut Geschäftsführer Heinz Schürer “deutlich billiger” und das Interesse im Gewerbe ist gross: “Wir wurden von Anfragen aus der ganzen Bundesrepublik überrollt.”

“Ein Blick ins Reedereigewerbe hätte den EU-Kommissaren schnell deutlich machen müssen, wie schön es ist, unter zypriotischer Flagge als Dumpinganbieter über die Weltmeere zu segeln”, kommentiert Gewerkschafter Kixmöller.

Stolperstein Dienstleistungs-Freiheit

Schlagzeilen liefert auch ein anderer Fall aus Niedersachsen: Dort verloren bisher rund 26’000 Fleischer (Fabrik-Metzger) ihren Job und wurden durch polnische Arbeiter ersetzt.

Möglich macht das die so genannte Dienstleistungs-Freiheit: Firmen aus den neuen EU-Ländern dürfen in den alten EU-Ländern Dienstleistungen mit eigenem Personal anbieten, mit Löhnen und nach den Bestimmungen des Herkunftslands. Bedingung ist, dass die Firma auch im Heimatland “nennenswerte Aktivitäten” betreibt.

Auch Selbstständige dürfen unter dieser Dienstleistungs-Freiheit ihre Dienste anbieten – beispielsweise als Fliesenleger, weil hier keine Meisterprüfung mehr notwendig ist, um auf den deutschen Markt zu treten. Die Kontrolle liegt beim Herkunftsland – dort hat man aber genug andere Probleme.

Dieses Kleingedruckte in den EU-Verträgen hat bisher 26’000 Arbeitnehmern in der deutschen Fleischer-Branche ihre Stelle gekostet. “Das ist kriminell, das sind Mafia-Strukturen”, klagt Karin Vladimirov an, Sprecherin der Gewerkschaft-Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).

Organisierte Kriminalität mischt mit

Das bestätigt auch die Staatsanwaltschaft Oldenburg, die in mehreren Schlachthöfen und Zerlegebetrieben wegen illegaler Arbeitnehmer-Überlassung, gewerbsmässigem Betrug, Lohnwucher und Urkundenfälschung ermittelte oder immer noch ermittelt.

“Viele der Sub-Unternehmen sind reine Briefkastenfirmen, gegründet, um die Dienstleistungs-Freiheit auszunutzen und Arbeitswillige nach Deutschland zu schleusen”, erklärt Oberstaatsanwalt Gerhard Kayser.

Die organisierte Kriminalität mischt mit: Frauen seien in Bordelle gezwungen worden, Männer müssten bis zu 16 Stunden pro Tag für 2,5 Euro pro Stunde arbeiten, gewohnt hätten die polnischen Staatsbürger unter unwürdigen Bedingungen. “Das ist moderner Sklavenhandel”, sagt Kayser.

Flankierende Massnahmen schützen die Schweiz

Ganz anders sieht es in der Schweiz aus. Fälle wie das Ausflaggen auf Zypern wird es nicht geben, dank den Übergangsfristen, die bis am 30. April 2011 gelten und dank den flankierenden Massnahmen.

“Bis dahin gelten in allen Bereichen Inländervorrang, Kontingente und vorgängige Lohnkontrollen”, erklärt Daniel Veuve, Leiter des Ressorts Arbeitsbeziehungen beim Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco). Falls der Arbeitsmarkt bis dahin massiv gestört werden sollte, kann die Kontingentierung bis 2014 verlängert werden.

Schweizer Firmen müssen also ihren Angestellten aus den neuen EU-Ländern denselben Lohn bezahlen, wie einem Schweizer Arbeitnehmer.

GAV verhindert Fleischer-Szenario

In allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen (GAV) enthaltene Mindestlöhne müssen eingehalten werden. Wo GAV nicht allgemeinverbindlich sind, können sie im Falle von Lohndumping einfacher dazu erklärt werden. Lohndumping soll durch verstärkte Kontrollen aufgedeckt und verhindert werden.

Ein GAV schützt auch die Metzger in der Schweiz. Veuve: “Es müssten Schweizer Löhne für polnische Metzger bezahlt werden, egal ob sie angestellt, verliehen oder von ihrer Firma entsandt werden. Personen, die angeben, selbständig zu sein, müssen dies nachweisen.”

Freier Personenverkehr gilt auch nicht für Arbeitslose, das soll so genannten Arbeitslosen-Tourismus verhindern.

swissinfo, Philippe Kropf, Wolfsburg

EU-Vertrag, Kap. 3 Art. 49:
Die Beschränkungen des freien Dienstleistungs-Verkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungs-Empfängers ansässig sind, sind … verboten.

Deutsche Firmen flaggen ihre Unternehmen nach Zypern, Malta oder Slowenien aus, um Beschränkungen für die andern neuen EU-Länder zu umgehen.

Die Dienstleistungs-Freiheit hat bisher 26’000 deutschen Fabrik-Metzgern den Job gekostet. Behörden ermitteln gegen die Schleuser-Mafia.

Solche Szenarien drohen der Schweiz nicht: Übergangsbestimmungen und flankierende Massnahmen sollen das verhindern.

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