Wenn alle den gleichen Raum nutzen
Neue Sportarten, mehr Siedlungsfläche, grosse Raubtiere: All dies beansprucht viel Raum. Der Druck auf die Natur nimmt stetig zu. Konflikte zwischen Mensch und Tier sind dabei nicht zu vermeiden. Statt Verbote empfehlen Experten, die Aktivitäten zu lenken.
Die Aussicht von der Klosterruine Rüeggisberg ist atemberaubend: Die berühmtesten drei Berge des Berner Oberlands, Eiger, Mönch und Jungfrau, sind in voller Pracht zu sehen.
Plötzlich donnern zwei Kampfjets auf einem Übungsflug durch die Stille, im Herzen des regionalen Naturparks Gantrisch südlich von Bern, in Betrieb seit dem 1. Januar 2012.
Wer Naturpark hört, erwartet Natur pur. Dessen Leiter Raphael Schmid relativiert: «Ein regionaler Naturpark ist ein nachhaltig ausgerichtetes Förderprogramm für ländliche Gebiete wie jenes, in dem wir uns befinden», erklärt er. Es gehe dabei nicht um explizit als Schutzgebiete gekennzeichneten Naturschutz wie etwa im Schweizerischen Nationalpark, sondern um eine kulturell geprägte Landschaft.
«Im Mittelpunkt steht die Pflege dieser schönen Landschaft, aber auch der vielen kulturellen Schätze. Die Klosterruine Rüeggisberg ist eines der Highlights im Naturpark Gantrisch.» Die Streusiedlungen mit den Bauernhöfen in der Gantrisch-Region seien «ein exemplarisches Beispiel für einen Naturpark». Die Gemeinden müssten ideell hinter dem Projekt stehen und den Naturpark zu einem gewissen Teil finanziell mittragen, so Schmid.
Nicht überall stossen solche Projekte auf das nötige Wohlwollen der Bevölkerung in den betroffenen Dörfern. Kürzlich sind Pläne für Naturparks in den Kantonen Bern und Schwyz an Gemeindeversammlungen gescheitert.
Und auch der Naturpark Gantrisch muss sich immer wieder abgrenzen: So gibt es in der Region «Anbieter, die Angebote lancieren, die nicht unbedingt den Parkzielen entsprechen». Kürzlich erst musste sich die Parkleitung öffentlich von Angeboten distanzieren.
Raus in die Natur
Quad-Touren und Helikopterflüge in Naturparks, Outdoor-Sportler in der entlegensten Wildnis, Zersiedelung der Landschaft, intensive Landwirtschaft, Rückkehr von Bär und Wolf. Dies sind nur einige Stichworte, welche die verschiedenen Ansprüche an die Natur zeigen.
Zwar hat sich das Wachstum der Siedlungsflächen in der Schweiz etwas abgeschwächt, doch es nimmt immer noch rascher zu als die Bevölkerung, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) festhält. Und das Bundesamt für Umwelt (Bafu) beobachtet eine starke Veränderung der Landschaft: «Viele Gegenden sind heute entweder zersiedelt oder ausgeräumt, geometrisiert und zerschnitten», heisst es in einer Analyse.
«Es gibt kaum ein Land, wo sich so viele Nutzungen auf einem Quadratmeter konzentrieren», sagt Wildtierbiologe Hans Peter Pfister. Gründe für solche Konflikte sieht er in der Zunahme von Bevölkerung und Mobilität, was zu einem erhöhten Druck auf Landschaft und Lebensräume von Tieren führe.
Laut dem ehemaligen Chef der Vogelwarte Sempach und Fachmann für Raumplanung findet Sport heute «überall und zu jeder Zeit statt». «Das ist neu gegenüber früher. Für Tiere, die Anpassungszeiten von Jahrzehnten bis Jahrhunderten brauchen, ist die Rasanz dieser Entwicklung ein Problem.»
Kampf um Räume
Pfister wurde auch bekannt durch seine Forschung mit Feldhasen. In einer vielbeachteten Studie konnte er nachweisen, dass nach der Durchtrennung eines Lebensraums insgesamt nur noch ein Viertel der Hasen dort lebte. Auch die Qualität des Lebensraums spielt laut Pfister eine Rolle. «Alle Bodenbrüter haben Probleme mit der intensiven Landwirtschaft, etwa die Feldlerche, im Gebirge das Braunkehlchen.»
Und nun stossen seit einigen Jahren auch noch Raubtiere wie Wolf, Luchs und Bär zurück in jene Räume, die sie einst bewohnt hatten. «Grossraubtiere sind wichtige Regulatoren», sagt Pfister. «Die Frage ist einfach: Hat unser Land noch Platz genug für derartige Raumverbraucher?» Denn solche Tiere bräuchten auch ungestörte Gebiete.
Zudem gerieten sie in eine Konkurrenz-Situation mit den Jägern, die ebenfalls Rehe und Gämsen im Visier hätten. Oder mit den Schafzüchtern, «die viel Geld vom Staat erhalten, sich aber wenig um den Herdenschutz kümmern. Die verlangen dann Schadenersatz und wollen zudem, dass Grossraubtiere abgeschossen werden».
Deshalb sei Aufklärungsarbeit sehr wichtig, besonders auch, weil die Gesellschaft immer weniger echten Kontakt zur Natur habe. Pfister ist denn auch engagiert in der Stiftung Umweltbildung Schweiz, deren Stiftungsrat er präsidiert.
«Wenn man die Kinder im bildungsfähigen Alter in den Wald und in die Natur führt, sie machen und selber entdecken lässt, haben sie mit 40, 50 Jahren eine völlig andere Haltung gegenüber der Natur», hat er beobachtet.
Schliesslich sei der Mensch ein Teil der Natur. «Es ist langfristig zu unserem Vorteil, nicht gegen die Natur, sondern mit ihr zu leben – sofern wir sie noch haben.»
Bergsport zwischen Schutz und Nutzung
Experten sind sich einig, dass Begehungs-Verbote allein nichts bringen. Vielmehr solle man versuchen, die Aktivitäten in gewisse Bahnen zu lenken. Einigermassen einfach sind organisierte Sportler über ihre Verbände zu erreichen. Ein Beispiel ist die «Fachstelle Bergsport &Naturschutz» des Schweizer Alpenclubs (SAC).
Der SAC habe sich anbahnende Konflikte zwischen Bergsport und Naturschutz bereits seit längerer Zeit auf dem Radar, sagt Ursula Schüpbach, Bereichsleiterin Umwelt beim SAC. Die Fachstelle überprüft unter anderem, «dass in sämtlichen Publikationen des SAC wie Führerliteratur und Skitourenkarten nur noch Routen eingetragen sind, die für Wild, Fauna und Flora naturverträglich sind».
Gemeinsam mit dem Bafu lancierte der SAC die nationale Kampagne «Respektiere deine Grenzen», die zu mehr Rücksicht gegenüber Wildtieren im Winter aufruft. Online ist dort ein Kartenportal abrufbar, das Wildschutz- und Jagdbanngebiete sowie die darin erlaubten Routen bezeichnet.
«So können auch die nicht organisierten Bergsportler angesprochen werden», ist Schüpbach überzeugt. «Das Kartenportal wird im Winter täglich im Schnitt von 950 Personen besucht.» Zudem setzten sich seit jüngster Zeit rund 75 Unternehmen aus der Outdoor- und Tourismus-Branche als Partner für die Kampagne ein, so auch der Naturpark Gantrisch.
Besucher lenken
Unterdessen ist das Vogelgezwitscher in die Klosterruine Rüeggisberg im Naturpark Gantrisch zurückgekehrt, wo man auf die «Besucherlenkung» setzt. So werden im Winter Schneeschuh-Trails und Winterwanderwege, im Sommer Bike-Trails und Wanderwege ausgeschildert, welche Gebiete mit sensiblen Tierarten umgehen. «Das funktioniert erstaunlich gut», betont Raphael Schmid.
Und weil der Naturpark Gantrisch auch Wolfgebiet ist, seien der Herdenschutz und das Konfliktpotenzial zwischen Wanderern und Herdenschutzhunden «brandaktuell»: «Als eine der ersten Tourismus-Regionen arbeiten wir mit den Herdenschutz-Beauftragten des Kantons Bern zusammen. So wissen wir jederzeit, wo sich die gehüteten Herden befinden und können Routen dementsprechend umleiten.»
Auch die Politik setzt sich regelmässig mit Fragen der Raumplanung auseinander.
Weil für Siedlungen, Wirtschaft und Verkehr in der Schweiz pro Sekunde ein Quadratmeter Grünfläche zugebaut werde, reichte ein Komitee 2008 die Initiative «Raum für Mensch und Natur (Landschafts-Initiative )» ein.
Als indirekten Gegenvorschlag zu diesem Volksbegehren verabschiedete das Parlament im Juni das revidierte Raumplanungsgesetz, worauf die Initianten die Volksinitiative bedingt zurückzogen.
Da der Gewerbeverband das Referendum gegen diese Gesetzesrevision ergriffen hat, könnte die Initiative möglicherweise wieder aktiviert werden.
Im März 2012 hatte sich das Stimmvolk knapp für die Beschränkung des Zweitwohnungsbaus in Bergregionen auf einen Anteil von 20% ausgesprochen.
In gewissen Randregionen der Schweiz vergrössert sich die Waldfläche.
Daraus zu schliessen, dass «die Natur wächst», ist laut dem Biologen Hans Peter Pfister aber ein Trugschluss.
«Im Grunde genommen ist die Zunahme der Waldentwicklung ein Zeichen für die negative Entwicklung der Landwirtschaft in den Berggebieten», betont er.
Dies sei zwar positiv für Waldbewohner, doch für Fauna und Flora der offenen Landschaft bedeute es einen Verlust.
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