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Gotthard: Verwirrende Opferbilanz

In der "Roten Zone". Der Gotthard-Strassentunnel bleibt mindestens bis Ostern 2002 gesperrt. Keystone

Die Zahl der Todesopfer der Brandkatastrophe im Gotthard Strassen-Tunnel bleibt unklar. Man rechnet mit einer Tunnelsperre bis Ostern 2002.

Nach dem verheerenden Unglück im Gotthard-Strassentunnel vom vergangnen Mittwoch präsentierte sich die Opferbilanz am Montag verwirrend. Polizei-Kommandant Romano Piazzini gab in Airolo (Südportal des Tunnels) bekannt, dass wahrscheinlich keine weiteren Toten mehr im Tunnel seien.

Nicht mit letzter Sicherheit steht zudem fest, dass der unfallverursachende Lastwagenchauffeur unter den Toten ist.

Er stützte sich auf den Umstand, dass die 23 am Brandplatz verlassenen Fahrzeuge entweder einem der bisher zehn identifizierten Opfer zugeordnet werden könnten, oder aber dass sich deren Besitzer gerettet und bei der Polizei gemeldet hätten.

Wo ist der Lastwagenfahrer?

Zum Lastwagenchauffeur, der eines der beiden Unfallfahrzeuge gelenkt hatte, und der in der bisherigen Bilanz der Polizei als elftes Opfer mitgezählt worden war, äusserte sich Piazzini vorsichtiger. In der Kabine des Lastwagens habe man praktisch nichts mehr vorgefunden.

Man müsse deshalb auf den Einsatz der Kriminaltechniker und möglicherweise auf das Vorliegen von DNA-Tests warten. Es handelt sich um einen türkischen Staatsangehörigen, der einen in Belgien immatrikulierten Lastwagen gelenkt hatte.
Ein Polizeisprecher sagte, man könne nicht völlig ausschliessen, dass sich dieser Chauffeur habe retten können. Er könnte unter Schock stehen und sich deshalb bei der Polizei noch nicht gemeldet haben.

Umgekehrt konnte Piazzini auch nicht mit völliger Sicherheit ausschliessen, dass noch weitere Opfer im Tunnel sind. So wäre es möglich, dass die verstorbenen Fahrzeuglenker noch weitere Passagiere mit sich geführt hatten.

Zur Verwirrung trug weiter bei, dass am Montag bei der Polizei zwölf neue Hinweise von Menschen eingingen, die ihre Angehörigen vermissten. Zuvor hatte sich die Liste der Vermissten auf 23 Personen verkleinert.

Russ verzögert Abklärungen

Neue Probleme tauchten auch bei der Sicherheit für die Bergungs-Mannschaften im Tunnel auf. Statikfachleute bestätigten zwar, dass nach den am vergangenen Samstag abgeschlossenen Stützungs-Massnahmen auch in der so genannten “Roten Zone” keine Einsturzgefahr mehr bestehe.

Neu bildete sich nach dem Austrocknen des Löschwassers aber eine Russ- und Staubschicht, die möglicherweise giftig ist, und die Bergungsleute gefährden könnte. Spezialisten der Unfallversicherungsanstalt SUVA und des eidgenössischen Arbeitsinspektorats nahmen deshalb Messungen vor.

Der wissenschaftliche Dienst der Kantonspolizei Tessin konnte die Arbeit am Brandplatz noch nicht beginnen. Er soll den Unfallhergang rekonstruieren. Danach kommen Fachleute der Universität Lausanne zum Einsatz, die die Dynamik des Brandes dokumentieren sollen. Sie waren bereits beim Feuer im Mont-Blanc-Tunnel beigezogen worden.

Opferbilanz erst nach drei Wochen

Erst in einem dritten Schritt ist der Einsatz des Teams der Spezialisten für die Disaster Victim Identification (DVI) vorgesehen, das nach weiteren Spuren von Opfern suchen soll. Die Polizei rechnet damit, dass die Arbeit der Kriminaltechniker und Wissenschaftler insgesamt fünf bis 20 Tage dauern wird. Erst danach wird eine abschliessende Opferbilanz möglich sein.

Der Beginn der Reparaturarbeiten wird frühestens Mitte November möglich sein. Der Chef der Schadenwehren des Gotthardtunnels, Peter Behr, sagte im Schweizer Radio DRS: “Wir wären alle froh, wenn der Tunnel bis Ostern wieder geöffnet werden könnte.”

Tunnel war unterminiert

Die Armee dementierte erneut, dass die strategische Sprenganlage im Bereich des Gotthard-Südportals beim Brand einen Gefahrenherd dargestellt habe. Oberst Urs Caduff, Kommandant FWK Region 6, sagte, auch wenn der Brand an einer anderen Stelle ausgebrochen wäre, hätte er den sicher im Fels eingelagerten Sprengstoff nicht zur Detonation gebracht.

Die Sprengladung wird nun aber noch vor der Wiedereröffnung des Tunnels entfernt, und zwar im Rahmen eines Konzepts, das laut dem Verteidigungs-Departement schon vor dem Brand eingeleitet worden war, und das der neuen Lage der Sicherheitspolitik Rechnung trägt.

Task Force

Eine interkantonale Task Force unter der Leitung des Bundes soll den internationalen Schwerverkehr mit griffigen Massnahmen einschränken. Ihre Hauptaufgabe sei das Staumanagement, sagte der Bündner Regierungsrat Stefan Engler nach einem Treffen mit Bundespräsident Moritz Leuenberger in Scuol (GR).

Die Brandkatastrophe rückt auch das Thema einer zweiten Tunnelröhre in den Vordergrund. Vertreter der in Scuol versammelten Verkehrskommission des Nationalrats sagten, dass es nach dem Unfall die Sicherheit stärker zu gewichten gelte. Zurückhaltender beurteilt die Kommission nun auch eine allfällige Kapazitäts-Steigerung im bestehenden Tunnel.

Derzeit benutzt der Schwerverkehr zwischen Basel und Italien hauptsächlich den San Bernardino und den Simplon.

Autoverlade-Preis auf 25 Franken reduziert

Die SBB wollen den Autoverlad am Gotthard ab nächsten Montag, 5.November, auch unter der Woche im Stundentakt einführen. Ausserdem werde der Verladepreis nach Absprache mit dem Bundesamt für Verkehr von 40 auf 25 Franken reduziert.

swissinfo und Agenturen

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