
Gotthardstau: Zahlen und Tricks, die Autofahrer kennen sollten

Der Stau vor dem Gotthardportal ist der Kreuzgang der Schweizer Autofahrer. Parteien von links bis rechts fordern eine Gotthard-Maut. Wie schlimm aber ist die Lage wirklich im Stauland Schweiz? Zahlen, Fakten ‒ und was Reisende tun können.
Ein Heer von Bremsleuchten stellt sich uns wie eine rote Wand entgegen. Zwischen Wassen und Göschenen geht einem Moment lang gar nichts mehr.
Wir kommen zum Stehen. Alles wird langsam, nur der Puls beschleunigt sich.
Stau.
Es ist der Normalzustand am Gotthard, und das längst nicht mehr nur in der Ferienzeit.
An über 100 Tagen im Jahr steht der Verkehr vor dem grossen Nadelöhr zwischen Nord- und Südschweiz, wo sich die Autos auf eine einzige Tunnelspur pro Richtung zwängen.
Wird es immer schlimmer?
Die Zahlen belegen das Gefühl der Autofahrenden: Um den Faktor drei haben die Staustunden am Gotthard laut dem Bundesamt für Strassen (Astra) allein von 2012 bis 2022 zugenommen, auf 1800 im Jahr.
Und die jüngsten Zahlen liegen noch einmal deutlich höher. Denn am Gotthard wächst der Stau überproportional: 1544 Staustunden vor dem Nordportal, 1657 vor dem Südportal lautet die Bilanz für 2024.
Der Dichtestress in der Schweiz ‒ am Gotthard wird er sicht- und fühlbar.
Viele Lösungen, die keine sind
28 Kilometer, fünf Stunden Wartezeit – das ist die Rekordmarke auf der Nord-Süd-Route, aufgestellt 1999, als die San-Bernardino-Route, die wichtigste Alternativroute zum Gotthard, wegen einer Überschwemmung gesperrt war.
Egalisiert wurde sie vor sieben Jahren, als ein Bus im San-Bernardino-Tunnel brannte.
Ohne ein solches Ereignis staut sich der Verkehr etwa halb so lang, mit zwei bis drei Stunden Wartezeit ist am Gotthard an Spitzentagen zu rechnen.
Über sieben Millionen Fahrzeuge wollen unterdessen jährlich durch den Tunnel. 1981, im ersten vollen Betriebsjahr, waren es nicht einmal halb so viele.
Kann das so weitergehen?
Ideen, wie der Verkehr am längsten Strassentunnel der Alpen verflüssigt werden kann, gibt es viele in der Schweiz. Politisch mehrheitsfähig sind sie kaum.
Eine variable Gebühr, die den Verkehr verteilen hilft? – Wäre ein Nachteil für die Südschweiz, das ohnehin schon chronisch abgehängte Tessin.
Ein System mit vorher gebuchten Slots zum Durchfahren? – Wäre nicht praktikabel, weil man Warteflächen in die engen Täler bauen müsste.
Ein Autoverlad nach dem Vorbild des Vereina-Tunnels? – Damit würde der Verkehr tendenziell vermehrt und die Region noch mehr belastet.
Kommt jetzt die Touristenmaut?
Auch die Idee, in beide Richtungen zwei Spuren zu öffnen, sobald im nächsten Jahrzehnt die zweite, aus Sicherheitsgründen gebaute neue Gotthardröhre fertig ist, geistert herum.
Es wäre ein Verstoss gegen alle Abstimmungsversprechen – und gegen die sogenannte Alpeninintiative, mit der die Schweiz schon vor über 30 Jahren den Schutz ihrer Berge vor dem Transitverkehr beschlossen hat.
Der einzige Vorschlag, den linke und rechte Parteien gleichermassen unterstützen, sind Transitgebühren für TouristenExterner Link. Mehrere Vorschläge dazu sind in Bern hängig, wie auch ausländische berichten.
Allerdings ist unklar, ob eine solche Gebühr rechtlich mit dem Landverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU vereinbar wäre.
Heute benötigen Ausländer bekanntlich einzig die Schweizer Autobahnvignette. Sie berechtigt für 40 Franken zur Nutzung aller hiesigen Autobahnen für ein Jahr.
Vorderhand bleibt es am Gotthard bei Steuerungs- und Begleitmassnahmen: Wenn viel Verkehr ist, wird das Tempo auf der Autobahn A2 reduziert. Ab drei Kilometern Stau schliessen Göschenen und Wassen ihre Autobahneinfahrten, um Ausweichverkehr zu verhindern.
– Es gibt nicht nur eine, sondern vier wichtige Nord-Süd-Achsen durch die Schweiz und ihr Gebirgsmassiv, die Alpen. Nebst der Gotthard-Route sind das die San-Bernardino-Route, die Simplon-Route (Autoverlad, kostenpflichtig) und die Route über den Grossen St. Bernhard (kostenpflichtiger Tunnel).
Je nach Abfahrts- und Zielort sowie Verkehrsaufkommen sind die Routen unterschiedlich schnell. Ab einer Stauzeit von einer Stunde am Gotthard zum Beispiel lohnt sich die Umfahrung via San-Berardino-Tunnel, und zwar für den gesamten Verkehr – von der Nord-Ost-Schweiz bis nach Basel.
– Bei einem Stau von einer halben bis zu einer Stunde, bietet sich in der warmen Jahreszeit die Fahrt über die Passstrasse an. Eine spektakuläre Landschaft und Einkehrmöglichkeiten unterwegs gibt’s obendrauf. Wichtig ist dabei, die Autobahn A2 rechtzeitig zu verlassen.
Bei einem kürzeren Stau kann man auch auf der A2 bleiben und die Ausfahrspur Richtung Göschen benutzen, die kurz nach Wassen beginnt. Vorsicht aber: Der Entscheid für die Passroute ist endgültig. Die Ausfahrspur erlaubt keinen Spurwechsel zurück auf die A2. Und in Göschenen und Wassen ist ab drei Kilometern Stau die Autobahneinfahrt gesperrt.
– Wer kann, plant seine Reise weit voraus und versucht, den Hauptstauzeiten durch antizyklisches Verhalten auszuweichen. Eine datengestützte Stauprognose nach TagenExterner Link bietet der Touring Club Schweiz (TCS) auf seiner Webseite.
Generell gilt: Die beste Reisezeit für die Gotthard-Route in Ferienzeiten ist von Dienstag bis Donnerstag, jeweils am frühen Morgen oder späten Abend. Vor der Abfahrt wie während der Fahrt lohnt es sich natürlich, die Verkehrslage zu prüfen und die Route berechnen zu lassen. Die besten Daten hat heute nach verbreiteter Meinung Google Maps.
– Wer selbst zur Stauvermeidung beitragen will, sollte im dichten Verkehr auf unnötige Spurwechsel und abrupte Bremsmanöver verzichten und, falls vorhanden, den Abstandstempomaten einschalten.
Drei Kilometer – haben wir die eigentlich schon?
Der Stau ist während unserer Anfahrt ständig angewachsen. Läppische zehn Minuten Zeitverlust verkündete das Navi bei der Abfahrt, eine Zahl, die es dann ständig nach oben korrigierte. Jetzt steht sie bei 40 Minuten.
Der Holländer vor uns rückt ein paar Meter vor.
Ohnmachtsanfälle häufen sich
Eigentlich ist die Schweiz ein Autobahnenland.
Zwar wurde das in den Sechzigerjahren geplante Netz in letzter Zeit nur noch geringfügig erweitert und die letzte sogenannte Engpassbeseitigung, ein punktueller Ausbau besonders überlasteter Routen, wurde 2024 vom Volk verworfen.
Dennoch hat die Schweiz gemessen an ihrer Grösse eines der dichtesten Autobahnnetze der Welt. Und in ihren Unterhaltsbemühungen, das zeigen die Zahlen, ist sie unübertroffen.
Das Netz aber stösst immer häufiger an seine Grenzen. Verkehrsüberlastung ist in den Zentren und Agglomerationen ein tägliches Bild und mit 87 Prozent klar die häufigste Ursache für Stau.
Das Problem sind die Kippmomente. Während der Verkehr 2024 um 0,7 Prozent zugenommen hat, stiegen die Staustunden um 13,9 Prozent – also um ein Vielfaches. Schon kleine Störungen bringen laut Astra das System zum Zusammenbruch.
Milliardenschaden Jahr um Jahr
Dabei stehen die Schweizer Autofahrenden im internationalen Vergleich noch einigermassen gut da.
Im Städteranking des Consulting-Unternehmens Inrix (2024 Global Traffic ScorecardExterner Link) findet sich Zürich auf Rang 48 der Städte wieder, in denen Personen die meiste Zeit im Verkehr verlieren. Basel steht auf Rang 129 und Genf auf Rang 209.

Der Traffic Index des Navigationslösungsherstellers TomtomExterner Link, der andere Kriterien und Daten hat, sieht Zürich auf Rang 80, Genf auf Rang 87 und Basel auf Rang 278.
In Istanbul, New York oder Bangalore ist man ganz anderes gewohnt. Und auch die meisten europäischen Metropolen liegen mit ihren Stauzeiten vor dem Zürcher Ballungsraum – zumindest heute noch.
Denn wenn die Zuwanderung, der Freizeitverkehr und Arbeitsmobilität weiterwachsen wie bisher, stellt sich die Frage: Droht dem Schweizer Verkehr der grosse Kollaps?
Der volkswirtschaftliche Schaden ist bereits heute enorm. Bereits 2019 schätzte das Bundesamt für Raumentwicklung allein die jährlichen Verspätungskosten auf über 3 Milliarden Franken pro Jahr. Das ist mehr als der Bau der neuen Gotthard-Röhre.
Hoffen auf das autonome Fahren
Es geht wieder ein Stückchen vorwärts am Gotthard. Am Heck hat sich ein Belgier eingereiht, mit einem Alfa Romeo 4C.
Warum bloss fährt der nicht über die Passstrasse?
Die automobile Zukunft sieht anders aus als der angejährte Mittelmotorsportwagen aus Italien. In den USA und China sind die ersten Robo-Taxis unterwegs. Immer mehr Fahrzeuge verfügen über einen Abstandstempomaten und fahren teilautonom.
Das ändert die Ausgangslage. Denn viele Staus entstehen im dichten Verkehr durch den Handorgeleffekt: Wenn ein Auto abrupt bremst, zwingt das die nachfolgenden ebenfalls zum Bremsen. Die Reaktion setzt sich wie eine Welle fort und verstärkt sich mit jedem neuen beteiligten Fahrzeug.
Ein erprobtes Gegenmittel auf der Autobahn ist Tempo 80, das erwiesenermassen ein gleichmässiges Fahren fördert. Noch effektiver ist das automatische Abstandhalten.
«Es reicht bereits, wenn fünf bis zehn Prozent der Verkehrsteilnehmenden mit modernen Fahrassistenzsystemen unterwegs sind, um einen deutlichen Effekt zu sehen», zitierte SRFExterner Link den ETH-Verkehrsingenieur Kevin Riehl.
Eine Mobilität mit autonomen und vernetzten Fahrzeugen wird diese Effekte maximieren.
Ist also jetzt noch die Zeit für einen Ausbau der Strassen?
Der Holländer fährt wieder ein Stück vor. Wir blinken, fahren rechts auf die lange Ausfahrtspur Richtung Göschenen, um dort umzudrehen. Wir haben genug vom Stau.

Editiert von Balz Rigendinger

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