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Black Movie Festival: Was der Druck in den Städten mit den Menschen macht

Ein Brand wird gelöscht
Ein Brand in Pointe-à-Pitre, der Hauptstadt von Guadeloupe, in einer Szene aus «L'Homme Vertige: Tales of a City»: Der Film wurde beim jüngsten Black Movie Festival in Genf sowie an den diesjährigen Berliner Filmfestspielen gezeigt. Malaury Eloi Paisley

Das Genfer Black Movie Festival hinterfragt die Entwicklung des urbanen Raums zwischen Bautätigkeit und Zerfall. Letztlich geht es um die Frage, wie sich Menschen in einem Kontext individueller Machtlosigkeit innerhalb der städtischen Entwicklung ein Zuhause und Heim erhalten können.

Wir werden bombardiert mit Bildern aus Katastrophengebieten: Gerippe von bombardierten Gebäuden, Trümmer, verwüstete Städte. Wir sehen ständig Orte, die durch Kriege, Waldbrände oder Überschwemmungen zerstört wurden.

Selbst dort, wo Gebäude intakt geblieben sind, lässt sich häufig nicht mehr von einem «Zuhause» für die Menschen sprechen. Wirtschaftskrisen, Wohnungsnot und Gentrifizierung führen zur Entwurzelung von Menschen in den Städten. In diesem Kontext wird das eigene Heim als geschützter Raum immer mehr zu einem Traum.

Anlässlich seiner 26. Ausgabe hat sich das diesjährige Black Movie FestivalExterner Link in Genf in der Sektion Cities mit der Veränderung des städtischen Raums beschäftigt. Dabei ging es vor allem um die Frage, wie ein eigenes Zuhause als geschützter privater Raum überleben kann.

Zu sehen waren Filme, welche städtische Räume als Orte darstellen, die sich «schnell und spürbar» verwandeln und so zu Schauplätzen für Vertreibung und Orientierungslosigkeit werden.

Dieser Schwerpunkt zum Zerfall des eigenen Zuhauses entspricht einem breiteren Trend im gegenwärtigen Filmschaffen, der sich mit den universellen Zwängen im städtischen Leben beschäftigt.

Bei der Ausgabe 2024 des Vancouver International Film Festival (VIFF) gab es beispielsweise eine Sektion namens Once There is a CityExterner Link, die sich speziell mit dem Leben in afrikanischen Städten befasste.

Ursprünglich war das Black Movie Festival von Genf ein Schaufenster für Filme «Made in Africa»Externer Link. Es ging darum, die Stimme des afrikanischen Kontinents stärker hör- und sichtbar zu machen, anstatt afrikanische Geschichte durch eine westliche Optik zu erzählen.

Inzwischen hat das Black Movie Festival seinen Horizont erweitert. Es werden auch Werke aus Asien und Lateinamerika gezeigt – generell Perspektiven des globalen Südens präsentiert.

Ein universelles Bild von Schutzbedürftigkeit

Bestimmte Erfahrungen scheinen der Menschheit immanent zu sein. Wenn beispielsweise ein Kind gebeten wird, ein Haus zu zeichnen, wird es wohl ein Quadrat mit einem darüber liegenden schrägen Dach skizzieren.

Für die Skizze eines Gebäudes reicht oft ein einfaches Rechteck. Diese geometrischen Formen entsprechen durch ihre Struktur archetypischen und universellen Bildern von Schutz.

Während uns der Akt des Bauens – der Konstruktion – vertraut ist, gehen die auf dem Festival gezeigten Filme Caught by the TidesExterner Link von Jia Zhang-ke undL’Homme VertigeExterner Link von Malaury Eloi Paisley einen Schritt weiter und konzentrieren sich auf die Universalität der «Dekonstruktion» – vor allem wenn diese von Regierungsstellen ausgeführt wird.

Der Trailer von Caught by the Tides:

In Caught by the Tides webt Jia Zhang eine retrospektive Doku-Fiktion, die die Liebesgeschichte von Qiaoqiao (Zhao Tao) und Bin (Li Zhubin) vor dem Hintergrund der historischen Umwälzungen in China verfolgt, insbesondere die Zerstörung der Stadt Fengjie im Südwesten des Landes.

Diese wird dem Boden gleich gemacht, um Platz für den Drei-Schluchten-Damm zu schaffen, der das grösste Wasserkraftwerk der Welt ermöglicht.

Das halb zerstörte Skelett eines Gebäudes mit seinen freiliegenden Fussböden, zertrümmerten Innenräumen, Puppenteilen und verstreuten Überresten von Leben inmitten dieser Ruinen wird zum Sinnbild der Vergangenheit.

Diese Bilder evozieren universelle Themen wie Verlust und seine Folgen. Die Gründe für diese Zerstörung sind jedoch zutiefst kontextabhängig und werden durch diese Langzeitdokumentation enthüllt.

Ein Mann auf einem Trümmerhaufen
Die Stadt Fengjie wird Stein für Stein auseinandergenommen: Szene aus dem Film «Caught by the Tides». Jia Zhangke

Durch die Integration von Filmmaterial aus seinem Film Still Life aus dem Jahr 2006 beleuchtet Jia Zhang-ke die Vertreibung der Bewohnenden der Stadt.

Eine Journalistenstimme fragt einen Mann, der sich auf die Umsiedelung in eine andere Provinz vorbereitet: «Was halten Sie vom Ganzen?» Er antwortet: «Es geht um das Drei-Schluchten-Projekt; wir tun das für unser Land.»

Ein fragwürdiger Urbanisierungsplan

Der Tribut, den Menschen für die rasante Modernisierung von Städten bezahlen, wird auch im Film L’Homme Vertige deutlich, der über sieben Jahre in Pointe-à-Pitre gedreht wurde, dem Hauptort von Guadeloupe in der Karibik.

Der Film zeigt die Bewohner:innen in einem seltsamen Schwebezustand – am Rande der Obdachlosigkeit inmitten verfallener Gebäude. Gezeigt wird ein urbaner Raum, der durch Brände bedroht ist und sich irgendwie gegen den Verfall wehrt.

In der Eröffnungsszene ist ein Kran zu sehen, auf dem bedrohlich das Logo «avenir deconstruction» (Zukunft Dekonstruktion) prangt. Es ist das Sinnbild für einen Ort, der unter der Last seiner kolonialen Vergangenheit ächzt.

Ein Kran reisst ein Gebäude ein
Malaury Eloi Paisley

Die urbanen Veränderungen werden durch den Plan Local d’Urbanisation (Lokaler Urbanisierungsplan) vorangetrieben, ein vom Mutterstaat Frankreich auferlegtes Erschliessungskonzept.

Der Regisseur Malaury Eloi Paisley, der bei der Vorführung in Genf anwesend war, erklärte, wie ein PDF mit dem Urbanisierungsplan in der Stadt zirkulierte, auf dem «un truc 3D» (eine 3D-Sache) zu sehen war – eine futuristische Vision von Pointe-à-Pitre mitsamt Kreuzfahrtschiffen und High-Tech-Gebäuden.

Diese Vision ist weit entfernt von der Realität, die die Bewohnenden der Stadt erleben. Paisley porträtiert in ihrem Film die Siedlung MortenolExterner Link in Pointe-à-Pitre als Beispiel für schlechte Baurenovierungen.

Der Trailer von L’Homme Vertige:

Zu diesen oberflächlichen Sanierungsmassnahmen gehören neue helle Anstriche und Balustraden. Diese kosmetischen Eingriffe verschleiern, dass keine grundlegende baulichen Instandhaltung erfolgt.

In einer unerbittlichen Schleife von Konstruktion, Dekonstruktion und Zerstörung fasst ein Bewohner diese düstere Realität zusammen: «Selbst in den neu gebauten Häusern entspricht nichts den nötigen Standards, um ein wirkliches Heim für Menschen zu schaffen. Es gibt immer Probleme…»

Dystopie oder Realität?

Ein Strand mit Palmen
Einleitende Szene aus dem Film “The Tenants”. Yoon Eun-Kyung

Wir können das Bild von Guadeloupe – einer Karibikinsel mit attraktiven Sandstränden und Landschaften – direkt mit dem der Eröffnungsszene von The TenantsExterner Link der südkoreanischen Regisseurin Yoon Eun-Kyung überlagern.

In diesem Film träumt der Protagonist Shin-dong (Kim Dae-gun) von der Natur und davon, an einen utopischen Ort namens «Sphere 2» zu ziehen, um dem bedrückenden Klima der Stadt zu entkommen.

Im Gegensatz zu den Städten in L’Homme Vertige oder Caught by the Tides, die in einer endlosen Schleife aus Aufbau und Dekonstruktion gefangen sind, bleibt die Stadt in diesem Streifen beständiger.

Aber das macht sie nicht lebenswerter. Shin-dong lebt unter ständiger Anspannung inmitten von Luftverschmutzung und unbezahlbaren Mieten und ist von den langen Arbeitszeiten erschöpft.

Seine Ein-Zimmer-Wohnung wird zu einem chaotischen Raum, als er erfährt, dass sein Mietvertrag wegen der anstehenden Renovierung des Gebäudes nicht verlängert wird. Um die Zwangsräumung zu verhindern, vermietet er sein Badezimmer an ein unheimliches Brautpaar.

The Tenants erinnert an ParasiteExterner Link (2019) von Bong Joon-ho und zeigt eine Person, die mit wenig auskommen muss und zu drastischen Massnahmen greift, um ihre Situation zu verbessern.

Die Absurdität ist zyklisch: Eine Person versucht, das System durch ein Schlupfloch auszunutzen, nur um dann wiederum durch ein anderes Schlupfloch selbst ausgenutzt zu werden.

Die Untervermietung von Räumen wie Badezimmern und Abstellräumen mit von der Regierung ausgegebenen Lebensmitteln und Pillen gegen Wahnvorstellungen speist diese bizarre Realität.

Für einen Film, der in Film-Datenbank IMDb als «dystopisch» bezeichnet wird, wirkt The Tenants unheimlich plausibel. Die Szenarien sind zwar übertrieben, zeigen aber eine tiefere Wahrheit vom Überleben in der Stadt, mitsamt Zwangsräumungen oder Spannungen in Wohngemeinschaften wegen schmutzigem Geschirr oder Lärm. All diese Themen lassen sich perfekt für humorvolle Szenen nutzen.

Der Trailer von The Tenants:

Externer Inhalt

Systeme und Widerstand

Für Filmemacher wie Paisley und Eun-Kyung wird das Filmen zu einem Akt der Verarbeitung von Gesehenen und des Widerstands.

Nach der Vorführung in Genf meinte Paisley, der den Film L’Homme Vertige: Tales of a City gedreht hat: «Ich fühle keine Distanz zu den Menschen, die ich filme. Der Film ist eine Form des Widerstands, denn [die Insel Guadeloupe] zu verlassen, bedeutet, mit Schuldgefühlen zu leben. Wenn man aber (auf der Insel) bleibt, wird man entweder verrückt oder integriert sich in das dortige System – auch das ist eine Art von Wahnsinn.»

Eun-Kyung erzählte in der Diskussion nach der Vorführung von ihren eigenen inneren Kämpfen und dem Druck des kreativen Überlebens: «Nach meinem ersten Film hatte ich das Gefühl, in ein System geraten zu sein, das ständigen Erfolg verlangt. Ich hatte das Gefühl, mich selbst zu verlieren, die Orientierung zu verlieren, und so zu leben, wie es das System verlangt. Es ist die Logik des Wettbewerbs, die uns zerstört.»

Die kollabierenden Systeme, die in diesen Filmen festgehalten werden, reflektieren das zeitgenössische städtische Leben und thematisieren die zentrale Frage moderner Städte: Können diese noch unser Grundbedürfnis nach einem stabilen Zuhause erfüllen?

Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob/ts, Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

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