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Entsteht in Genf ein globales Abkommen gegen Plastikmüll?

Freiwillige sammeln an den Ufern des Genfersees Plastikmüll ein
Freiwillige sammeln bei einer Säuberungsaktion an den Ufern des Genfersees Plastikmüll ein. Keystone / Jean-Christophe Bott

Das internationale Genf bereitet sich auf die letzte Runde der Verhandlungen vor, die zu einem weltweiten Abkommen gegen Plastikverschmutzung führen sollen. Doch es gibt noch immer Konfliktpunkte.

Ab nächster Woche wird der Palais des Nations Schauplatz intensiver Verhandlungen sein, die zu einem historischen Abkommen zur Eindämmung der weltweiten Plastikverschmutzung führen könnten.

Vom 5. bis 14. August werden 170 Delegationen aus aller Welt zusammenkommen, um einen neuartigen, rechtsverbindlichen Text fertigzustellen. Bevor der Vertrag jedoch unterzeichnet werden kann, müssen noch einige schwierige Fragen geklärt werden.

Jedes Jahr werden weltweit mehr als 400 Millionen Tonnen Plastik produziertExterner Link, die Hälfte davon für den einmaligen Gebrauch. Weniger als 10% davon werden rezykliert. Der Rest sammelt sich auf Mülldeponien, in Böden und Meeren an oder zerfällt zu Mikroplastik, das Ökosysteme verseucht und sogar ins menschliche Blut gelangt.

Die weltweite Kunststoffproduktion hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt und könnte sich laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungExterner Link (OECD) bis 2060 sogar verdreifachen.

Dadurch würde die Plastikverschmutzungs-Welle zusätzlich vergrössert, deren gesundheitliche und ökologische Folgen noch weitgehend unbekannt sind.

Verhandlungen der letzten Chance

Angesichts dieser Aussichten hat die Umweltversammlung der Vereinten Nationen 2022 eine historische Resolution verabschiedet, um ein rechtsverbindliches internationales Abkommen gegen Plastikverschmutzung zu erarbeiten.

Der Text zielt darauf ab, den gesamten Lebenszyklus von Plastik abzudecken, unter anderem durch eine verlangsamte Produktion und ein besseres Abfallmanagement.

Grafik Plastikproduktion weltweit
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Doch der Weg zu einer Einigung ist nach wie vor steinig. Bei den geplanten Abschlussverhandlungen im Dezember 2024 in Busan, Südkorea, lehnte ein Block ölproduzierender Länder jegliche Produktionsbegrenzung ab – darunter Saudi-Arabien, Russland und der Iran.

Dies führte zu einem grandiosen Scheitern. Die Genfer Runde im August dürfte nun die letzte Chance sein, doch noch eine Einigung zu erzielen.

Spannungen bleiben bestehen

«Die Verminderung der Produktion ist das wichtigste, aber auch das am schwierigsten zu verhandelnde Thema», sagt Giulia Carlini vom Internationalen Zentrum für Umweltrecht (CIEL).

Sie nimmt als Beobachterin an den Verhandlungen teil. In diesem sensiblen Bereich liefern sich zwei Seiten ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das an die Klimaverhandlungen erinnert.

Auf der einen Seite fordert eine ehrgeizige Koalition unter der Führung von Norwegen und Ruanda – der auch die Schweiz angehört – ein verbindliches Ziel zur Verringerung der Produktion bis 2040. Das entspricht dem UNO-Mandat, das den gesamten Lebenszyklus von Plastik von der Herstellung bis zur Entsorgung abdeckt.

Demgegenüber stehen öl- und plastikproduzierende Staaten wie Saudi-Arabien, Russland, der Iran oder China. Sie wollen den Vertrag auf die Abfallentsorgung beschränken, ohne die Produktion zu drosseln. «Ohne die Produktion einzuschränken, wird es unmöglich sein, die Plastikverschmutzung zu bekämpfen», warnt Carlini.

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Die Idee ist, eine weltweite Obergrenze für die Plastikproduktion festzulegen und diese dann schrittweise zu reduzieren. Gleichzeitig sollen die bei der Herstellung verwendeten giftigen Substanzen eingeschränkt werden.

«Mehr als 16’000 Chemikalien werden in Kunststoffen verwendet, aber von mehr als 60% davon ist nicht bekannt, ob und wie gefährlich sie sind», sagt die Juristin.

Weitere Schlüsselthemen sind die Verbesserung des Produktdesigns, um das Recycling zu erleichtern, die Finanzierung von Massnahmen in Ländern des Globalen Südens und der Übergang zu einer Entscheidfindung durch eine Abstimmung statt eines Konsens.

«Ohne Abstimmungsmechanismus könnte man am letzten Tag in Genf mit einem wirksamen Text ankommen, aber ein einziger Staat könnte den gesamten Prozess blockieren», warnt Carlini.

Eine Arena voller Lobbyistinnen und Lobbyisten

Die Verhandlungen finden unter den wachsamen Augen der Industrie statt. In Busan nahmen schätzungsweise 220 Lobbyistinnen und Lobbyisten der fossilen und chemischen Industrie an den Verhandlungen teilExterner Link und stellten damit die grösste anwesende Delegation.

«Mit jeder Sitzung steigt die Zahl der Lobbyistinnen und Lobbyisten aus der fossilen Brennstoff- und Chemieindustrie», sagt Carlini. «Dies ist ein grosses Hindernis für einen ehrgeizigen Vertrag.»

Um eine Blockade zu vermeiden, schlagen einige ein globales Ziel für die Senkung von Produktion und Konsum vor. Die Einzelheiten der Umsetzung sollen in die Anhänge verschoben werden, da diese leichter zu ändern sind.

«Das Risiko besteht jedoch darin, dass einige Staaten die Ratifizierung des Vertrags verweigern, falls sie der Meinung sind, dass er zu weit geht», sagt Carlini.

Die Schweiz ist Umweltsünderin, aber ehrgeizig

Laut einer Studie von Science Advances ist die Schweiz die zweitgrösste Produzentin von Plastikmüll pro Kopf in Europa. Dennoch setzt sie sich für ein ehrgeiziges Abkommen ein.

«Die Schweizer Delegation wird sich für ein wirksames Abkommen mit international verbindlichen Bestimmungen über den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen einsetzen», kündigte Felix Wertli, Botschafter für die Umwelt und Leiter der Abteilung Internationale Angelegenheiten des Bundesamts für Umwelt, gegenüber Swissinfo an.

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Zu seinen Prioritäten gehören eine nachhaltige Reduzierung der Produktion und des Konsums von Kunststoffen, die Beschränkung von Einwegplastik und besorgniserregenden Chemikalien, mehr Transparenz in der Wertschöpfungskette sowie ein besseres Produktdesign.

Bisher hat der Bundesrat mehrere Initiativen in diese Richtung unter Berufung auf die «Wirtschaftsfreiheit» abgelehnt. Doch das könnte sich ändern.

So wurden im Januar im Umweltschutzgesetz neue RechtsgrundlagenExterner Link zur Stärkung der KreislaufwirtschaftExterner Link verankert, die auch Kunststoffe betreffen. Massnahmen zur Verbesserung des Recyclings und ein Verbot bestimmter MikroplastikartenExterner Link werden derzeit ebenfalls diskutiert.

Herausforderung für die öffentliche Gesundheit

In Genf wurden die Diskussionen über das zukünftige Abkommen bereits lange vor der offiziellen Eröffnung der Verhandlungen aufgenommen. Seit mehreren Monaten setzen sich Gesundheits- und Menschenrechtsfachleute dafür ein, dass der Vertrag auch die Auswirkungen von Plastik auf die Gesundheit und die Menschenrechte berücksichtigt.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird bei den Gesprächen eine Schlüsselrolle spielen. «Dieses Abkommen ist eine grosse Herausforderung für die öffentliche Gesundheit. Die Gesundheit des Menschen und die Umwelt sind untrennbar miteinander verbunden», betont die Organisation.

Bestimmte Zusatzstoffe und Chemikalien in Kunststoffen können das Hormonsystem stören, die Fortpflanzung beeinträchtigen oder das Krebsrisiko erhöhen.

Zudem werden sie mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie mit Störungen der Atemwege, des Verdauungstrakts und des Nervensystems in Verbindung gebracht.

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Auch der Gesundheitssektor selbst wird sich ändern müssen. Er erzeugt jährlich fast 1,7 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle, die vor allem von Einweggeräten stammen.

«Viele Spitäler haben bereits Lösungen gefunden, um ihre Plastikbelastung zu reduzieren. Das Abkommen kann diese Initiativen fördern», meint die WHO.

Die Schwächsten einbeziehen

Die Anerkennung der Menschenrechte, vor allem das Recht auf eine gesunde Umwelt, ist für mehrere Expertinnen und Experten eine Grundbedingung.

«Die Plastikverschmutzung wirkt sich unverhältnismässig stark aus auf Kinder, Arbeiterinnen und Arbeiter, die diesen Produkten ausgesetzt sind, sowie auf die Gemeinden in der Umgebung von Industriestandorten, einschliesslich indigener Völker», betont die WHO.

Bei den Verhandlungen in Busan beklagten indigene Vertreterinnen und Vertreter, dass sie nicht ausreichend in Entscheide einbezogen worden seienExterner Link, die sie direkt betreffen. «Dies ist ein Punkt, der bei den bevorstehenden Gesprächen in Genf genau beobachtet werden muss», sagt Carlini vom Internationalen Zentrum für Umweltrecht.

Ist sie zuversichtlich, dass die Gespräche zu einem Vertrag führen werden? «Es ist besser, sich die Zeit zu nehmen, einen ehrgeizigen Vertrag zu verabschieden, der unsere Produktions- und Konsumationssysteme überdenkt, als einen schwachen Text ohne Tragweite zu haben.»

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Französischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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