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Die Schweiz in Algerien im politischen Minenfeld

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Aussenminister Joseph Deiss und der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika haben am Sonntag (01.04.) ein internationales Kolloquium über den Heiligen Augustinus eröffnet. Damit begibt sich die Schweiz in ein Minenfeld, denn hinter diesem kulturellen und wissenschaftlichen Anlass ist ein grosses politisches Problem verborgen.

Die Veranstaltungen passten zum Jahr des Dialogs der Zivilisationen, sagte der Vorsteher des Eidg. Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bei der Einweihungszeremonie des Kolloquiums in Algier.

Mit seiner Afrikanität erinnere der Heilige Augustinus den Westen an seinen ausser-europäischen Ursprung. Sein Beispiel müsse Europa ermutigen, der Mittelmeerwelt mehr Aufmerksamkeit zu schenken – insbesondere dem Maghreb.

Der Heilige Augustinus gilt als Sinnbild des westlichen Denkens und Vater der lateinischen Kirche, er hat aber seinen afrikanischen Ursprung nie verleugnet. Er kam in einem Gebiet zur Welt, das heute zu Algerien gehört. Und dort ist er auch gestorben.

“In Algerien vom Heiligen Augustinus, von seiner Universalität und seiner Afrikanität zu sprechen, hilft über die Natur der nationalen Identität dieses Landes nachzudenken”, findet Pierre-Yves Fuchs, diplomatischer Mitarbeiter im Schweizer Aussenministerium.

Ein Nachdenken, das im unabhängigen Algerien lange Zeit tabu war, und das der gegenwärtige Präsident des Landes im April 1999 zu einem Thema seiner Wahlkampagne machte. Der grosse Kommunikator Abdelaziz Bouteflika hat im Übrigen die Erklärungen und Gesten an die Algerien-Franzosen, die Christen und die Juden, welche in diesem Land lebten oder noch leben, mehrfach wiederholt.

“Doch steht zu befürchten, dass Präsident Bouteflika dieses Kolloquium benutzt, um seine geistige Offenheit gegenüber den westlichen Regierungen zu beweisen. Eine Offenheit, die in Tat und Wahrheit nicht existiert”, winkt Salima Ghezali, die Direktorin der noch immer von den Behörden verbotenen Zeitung “La Nation” sofort ab.

Laut der Journalistin spalten die durch solche Anlässe ausgelöste Debatten einen Teil der frankophonen Elite, “welche die Symbole der Demokratie für sich vereinnahmt hat” und einen Teil der Arabisch sprechenden algerischen Elite systematisch in zwei Lager, die sich gegenseitig als Abtrünnige behandeln.

Auf jeden Fall ist die Angelegenheit laut Ghezali sehr riskant für die Schweizer Diplomatie. “Ich verstehe eigentlich nicht, warum die Schweiz sich direkt an etwas beteiligt, das offensichtlich rein konjunkturell und politisch motiviert ist. Das ist nicht gut für die Beziehungen zwischen den Menschen in der Schweiz und in Algerien.”

Die Chefredaktorin der “Nation” weist noch auf eine weitere Zweideutigkeit hin, nämlich die Tatsache, dass die offiziellen Dokumente aus der Schweiz und aus Algerien einzig “die Afrikanität” des Heiligen Augustinus hervorheben, während sein “Berbertum” nicht zur Sprache kommt.

Dabei hat der lateinische Kirchenvater seine Identität als Berber immer betont und sie gleichzeitig mit seiner römischen Ausbildung verbunden. Und er ist heute eine Figur im kollektiven Unterbewussten, ähnlich wie der Schriftsteller Mouloud Mammeri.

“Es war ganz klar ein Stellungskrieg im Vokabular zu erkennen. Damit werden de facto Dimension und Kultur der Berber weiter verleugnet.” Hatte der algerische Präsident nicht noch vor Kurzem in Ottawa erklärt: “Die Berbersprache anerkennen? Nur über meine Leiche!”

“Das algerische Volk verfolgt diese Polemiken, ohne richtig zu begreifen, wodurch sie ausgelöst werden”, betont Salima Ghezali. Denn das Kolloquium über den Heiligen Augustinus hat bereits eine Polemik ausgelöst, nachdem der Wali von Souk-Ahras (der Stadt, wo der Heilige Augustinus 354 nach Christi Geburt auf die Welt kam) eine mit dem Kolloquium verbundene Gemäldeausstellung verboten hatte.

Wird der algerische Präsidenten von der Schweizer Politik moralisch unterstützt? “Es ist sicher heikel, heute in Algerien von einem christlichen Schriftsteller zu sprechen”, räumt Fuchs ein. “Aber wir haben uns entschlossen, auf die Herausforderung einzugehen.”

Die Herausforderung wird allerdings von der algerischen Bevölkerung nicht als solche wahrgenommen. “Es ist surrealistisch, solche kulturellen Anlässe in einem Land durchzuführen, in dem die Behörden sich mit keinem Wort zu der Gewalt äussern, unter der die Menschen zu leiden haben”, betont Ghezali.

“Es wäre schön”, fügt sie bei, “wenn sich die Schweiz für die Tragödie in Algerien interessieren würde, für die Menschenrechtsverletzungen, die ungestrafte Gewalt, für all die wichtigen Fragen – im eigentlichen Sinn des Wortes – mit denen sich die algerische Bevölkerung herumschlägt.”

Auch einige Schweizer Abgeordnete verstehen nicht, dass der Bund sich an einem solchen Anlass des diplomatischen “Marketings” beteiligt. “Es ist sehr beunruhigend, dass ein solches Regime unterstützt wird”, empört sich der sozialdemokratische Nationalrat Nils de Dardel. “Und dies zu einer Zeit, da es immer mehr Zeugnisse über eine Beteiligung der Armee an den Massakern gibt.”

Frédéric Burnand

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