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Das Architekturwunder von Bern

Kontrast in Form und Farbe: Die 2008 fertig gestellte Wohnsiedlung "Hardegg" von Matti Ragaz Hitz Architekten im Süden Berns. Dominique Uldry

Ein Architektur-Führer zeigt: Die Stadt Bern ist weit mehr als Postkarten-Mittelalter und Shoppingcenter hinter restaurierten Sandstein-Fassaden. 84 Neu-und Umbauten der letzten 20 Jahre zeugen von zeitgenössischem Umgang mit Formen und Materialien.

Münster, Käfig- und Zytglogge-Turm sind Wahrzeichen und seit jeher Garant für Touristenströme. Das “Zentrum Paul Klee” von Renzo Piano und das Einkaufszentrum “Westside” von Daniel Libeskind sind ebenfalls international beachtete Ikonen zeitgenössischer Architektur.

Beide stehen am Stadtrand, das Klee-Zentrum isoliert neben der Autobahn, “Westside” ist Teil eines Entwicklungsgebietes mit Schwerpunkt Wohnen.

“Die Berner Architekturszene ist eigenständig. Sie ist pragmatischer, klassischer und verständlicher. Piano und Libeskind haben mit ihrer sehr persönlichen Sprache Ausnahmegebäude gebaut”, antwortet der Berner Stadtplaner Christian Wiesmann auf die Frage nach der Signalwirkung der beiden internationalen Stars auf die lokale Szene.

Bern braucht keine neuen, spektakulären Grossbauten, keine Motoren für das Stadtmarketing: Die Altstadt ist gebaut, denkmalpflegerisch geschützt, seit 1983 als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet und durch die Aare-Halbinsel geographisch klar definiert.

Bern braucht zusätzlichen Wohnraum. Die Stadt bietet – auch dank der Bundesverwaltung – 150’000 Arbeitsplätze, zählt jedoch lediglich 130’000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die 70’000 Pendler zahlen ihre Steuern anderswo.

“Halen” markierte den Aufbruch

“Es hat noch viel Platz zum Bauen, nicht genügend zwar, aber viel”, sagt Stadtplaner Wiesmann. Das hat zur Folge, dass in den Aussenquartieren neue, verdichtete Siedlungen entstanden sind und noch entstehen werden. (siehe Foto-Galerie rechte Spalte)

In diesem Bereich hat die Berner Szene eine lange Tradition. Bereits 1961 – zu einer Zeit, in der Zersiedlung und Platzknappheit noch nicht zum Vokabular von Politikern gehörten – erregte das “Atelier 5” mit der Siedlung “Halen” weltweit Aufsehen. Der Autor des Architektur-Führers Bern baut, Werner Huber, bezeichnet die Halen-Siedlung mit ihren Gemeinschaftsanlagen und dem Geflecht von Wegen und Plätzen als “Zäsur” in der Geschichte der Berner Architektur: “Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach ‘Halen’.”

Unsichtbarer Neubau

Bern baut versteht sich als “Spiegel der Dynamik”, die seit 20 Jahren die Stadtentwicklung prägt. Dazu gehören auch etliche Bauten der öffentlichen Hand, also der Bundesverwaltung, der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und der Stadt.

Dass auch in der geschützten Altstadt noch Platz für Erneuerung bleibt, zeigen die Sanierung und Technologisierung des Parlamentsgebäudes und das neue Medienzentrum Bundeshaus.

Dieses befindet sich in drei Häusern aus dem 19. Jahrhundert, die nach den Vorgaben der Denkmalpflege und unter Beibehaltung der kleinräumigen Struktur restauriert wurden. Für die grossen Räume wie TV-Studios und Pressekonferenz-Saal hat das Büro “IAAG Architekten” einen komplett unterirdischen Neubau gebaut, dessen Fläche die drei Häuser und den Innenhof umfasst.

Knacknuss Bahnhofplatz

Die SBB setzen gleich mit mehreren Bauten markante Akzente: mit dem Umbau des Bahnhofs, der sich seither weniger vor der Stadt verschliesst, einer wellenartigen Verlängerung des Perrondachs und dem “Baldachin”, einem Glasdach über dem Bahnhofplatz. Dieses schützt die Fussgänger vor dem Gang durch den Untergrund vor Wind und Regen und verbindet auch optisch den Bahnhof mit der denkmalgeschützten Altstadt. Entsprechend langwierig waren die Auseinandersetzungen über das Bauwerk.

“Selten vermag ein Neubau einen Ort so positiv zu verändern”, beurteilt Werner Huber die Wirkung des neuen Wahrzeichens. Mit der absehbaren Erweiterung der chronisch überlasteten Geleiseanlagen und dem Neubau der Hauptpost ist der Bahnhofplatz eine städtebauliche Knacknuss, zumal der Platz gleichzeitig eine hoch frequentierte Verkehrsachse ist und dies nach dem Volks-Nein zu einem autofreien Bahnhofplatz im September 2009 weiterhin bleiben wird.

Im Sog der Altstadt

In Universitätsräume, Lehrwerkstätten oder Kulturzentren transformierte Industriegebäude, neue Dienstleistungsgebäude, neue Tramstrecken und S-Bahnhöfe zeigen: Die längst zusammengewachsene Agglomeration Bern mit ihren bald 350’000 Einwohnern bildet politisch zwar keine Einheit, ist aber auf dem Weg zur grossen Stadt mit der entsprechenden architektonischen Ausstrahlung.

Zur Grossstadt fehlt ihr die Gleichwertigkeit verschiedener Quartiere als Zentren des urbanen Lebens. “Wir halten bewusst die verschiedenen Zentren aufrecht und versuchen sie noch zu stärken”, sagt dazu Stadtplaner Wiesmann und verweist auf Planungen zur fussgängerfreundlicheren Neugestaltung der Verkehrszentren in verschiedenen Quartieren.

Dennoch sagen Berner, wenn sie sich im bahnhofsnahen Länggasse-Quartier – also mitten in der Stadt – treffen: “Ich gehe in die Stadt” und meinen damit die Altstadt.

Andreas Keiser, Bern, swissinfo

Der Architektur-Führer dokumentiert 84 Neubauten in Bern und Umgebung seit 1990 in Text, Plan und Bild.

Dominique Uldry hat alle Objekte fotografiert, die Texte stammen von Autorinnen und Autoren des Architektur-Magazins Hochparterre.

Kurzporträts von 40 wichtigen Bauten aus den letzten hundert Jahren ergänzen die Hauptobjekte.

Das Buch ist in der Edition Hochparterre bei Scheidegger & Spiess erschienen.

Es erscheint unter dem Titel “Building Bern” auch in Englisch.

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