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Sintflut in der Zona de Los Santos

Wäsche trocknen nach den schweren Regenfällen in Los Santos. Melanie Fluri

Seit meiner Ankunft hier in Costa Rica habe ich sehr viel Wasser gesehen und gespürt. Mir kommt es vor, als hätte ich die Niederschläge regelrecht angezogen. Wo immer ich mich gerade aufhielt, regnete es.

“Mir spielt es keine Rolle, wenn es regnet. Ich habe immer einen Regenschirm dabei, sagte meine Kollegin Magi, als ich ihr von den heftigen Regenfällen der letzten Tage berichtete, kurz bevor sie mich in Costa Rica besuchen kam. Sollte ich ihr klarmachen, dass es sich nicht nur um einen kurzen Tropenregen handelt?

Als Freiwillige eines Schildkrötenprojekts erlebte ich die Nässe hautnah. Die nächtlichen Patrouillen zum Schützen der Schildkröteneier fanden häufig bei strömendem Regen statt. Hinzu kommen die Flüsse, die wir täglich durchqueren mussten. Je nach Wasserstand war dieses Unterfangen mehr oder weniger abenteuerlich.

Unvergesslich bleibt der Tag, an dem wir zu viert eine Primarschule besuchten. Dazu mussten wir einen Fluss durchqueren, der mir bis unter die Schultern reichte. Zum Glück hatte dieser kaum Strömung. Peinlich war, anschliessend triefend nass die Schüler über das Projekt zu orientieren.

Kleiner Regenguss?

Nach diesem feuchten Einsatz als Freiwillige reiste ich an einem Sonntag zu meiner Kollegin Alicia nach San Marcos de Tarrazú. Am Abend meiner Ankunft bestaunte ich die malerische Stimmung, die in der Zona de Los Santos beim Sonnenuntergang herrschte.

Die hügelige Kaffeelandschaft war in goldenes Licht getaucht. Nicht im Traum wäre mir in den Sinn gekommen, dass ich in dem Moment dieses Leuchten für längere Zeit zum letzten Mal betrachtete.

Ab Montagmittag regnete es Tag und Nacht ununterbrochen. Im Hinterhof lief das Wasser nicht mehr ab, die Wasserpumpe funktionierte natürlich genau zu diesem Zeitpunkt auch nicht. Zum Glück hat Alicia zwei Toiletten. Bei einer staute das Wasser zurück, die Schüssel war bis zum Rand gefüllt.

Am Mittwoch war die Situation immer noch unverändert. Mittlerweile beunruhigte dieser ununterbrochene Regen auch mich. Ging ich in den nächstgelegenen Einkaufsladen um die Ecke, so kehrte ich trotz Regenjacke, -hose und –schirm triefend nass zurück. Dies hatte zur Folge, dass ich mich vorwiegend zu Hause aufhielt. Dabei fühlte ich mich wie ein Tiger im Käfig.

Kritische Situation

Am Donnerstag wurde für die Zona de Los Santos der Notstand ausgerufen. In der Region gab es unzählige Erdrutsche mit mehreren Verschütteten. San Marcos war von der Umwelt abgeschnitten. Keine der drei Strassen, welche vom Ort wegführen, war mehr passierbar.

Dies bedeutete natürlich auch, dass keine Busverbindung nach San José bestand. Hinzu kam, dass wir für fast 24 Stunden keinen Strom hatten. San Marcos war wie ausgestorben. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, und in den wenigen noch geöffneten bedienten die Angestellten die Kunden mit Taschenlampen.

Am Freitag, immer noch bei strömendem Regen, wurde ein Wohnhaus in der Nähe von Alicias Haus von einem Erdrutsch mitten auf eine Verbindungsstrasse gerissen.

Mittlerweile war ich total kribbelig. Würde ich es schaffen, rechtzeitig zum Flughafen zu gelangen, um Magi zu empfangen?

In den Regalen der Lebensmittelgeschäfte herrschte unterdessen gähnende Leere. Sämtliche Familien hatten sich mit Reis, Bohnen und anderen unabdingbaren Lebensmitteln eingedeckt. Schliesslich wusste niemand, wann diese Sintflut zu Ende gehen würde.

Trotz Notstand und viel Arbeit konnte ich mich kaum nützlich machen. Als Einziges unterstützte ich das Rote Kreuz, indem ich für die vielen Sanitäter und anderen Helfer Mittagessen kochte. Diese kehrten nach der Suche nach den Verschütteten jeweils triefend nass, durchfroren und mit einem Bärenhunger zurück.

Am Freitagabend besuchte ich trotz Alicias Bedenken einen Kollegen. Sie liess mich allerdings nur aus dem Haus unter der Bedingung, mit einem Taxi zu fahren. Ich fand ihre Angst etwas übertrieben, machte ihr jedoch diesen Gefallen.

Ironischerweise bin ich direkt vor der Wohnung die Einfahrt runtergerutscht, konnte mich in letzter Sekunde am Geländer festhalten und hing wie ein Affe vom ersten Stock ins Erdgeschoss runter. Währenddessen waren genau darunter drei Jungs am Diskutieren. Diese meinten trocken: “Wir wussten gar nicht, dass hier die Mädchen vom Himmel fallen.”

Rettender Sonnenstrahl

Am Freitagabend um 21 Uhr war der ganze Spuk endlich vorbei. Der Regen hatte aufgehört. Erst jetzt konnte effizient mit den Aufräumarbeiten begonnen werden.

Am Samstag kehrte der Sonnenschein und mit ihm das Leben nach San Marcos zurück. Die unzähligen Kleidungsstücke, die im ganzen Dorf an Drähten, Toren und Gartenzäumen hingen, könnte man beinahe als Stillleben bezeichnen.

Ich konnte Magi glücklicherweise frühzeitig darüber informieren, dass ich nicht am Flughafen erscheinen würde. Die Busse verkehrten erst fünf Tage später wieder zwischen San Marcos und San José.

Ich jedoch hatte sehr viel Glück. Wohl als Lohn fürs Kochen (oder aus Mitleid?) nahm mich eine auswärtige, vollbesetzte Ambulanz am Sonntag nach Alajuela mit. Die Sanitäter dieser Einheit waren an der Suche nach den Verschütteten beteiligt gewesen.

Während der Fahrt nach Alajuela wurde mir bewusst, weshalb lediglich die Ambulanz die Strasse befahren konnte bzw. durfte: Noch nie zuvor hatte ich so viele schlammbedeckte oder halb weggerutschte Strassen gesehen.

Hauptsache war, dass ich Magi treffen konnte. Auch wenn das Vorfahren in der Ambulanz mit einem Tag Verspätung nicht geplant gewesen war. Spätestens in diesem Moment erkannte Magi wohl, dass ein Regenschirm im sintflutähnlichen Regen von Costa Rica nicht viel taugt.

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.

Zu ihnen gehört auch Melanie Fluri, die zur Zeit in Costa Rica weilt. 

Bis im Sommer 2011 berichtet sie für swissinfo.ch über ihre Erfahrungen und Beobachtungen in Costa Rica.

Melanie Fluri ist 1985 geboren und von Beruf Primarlehrerin.

Von 2008-2010 arbeitete sie auf ihrem Beruf in Zuchwil, Kanton Solothurn.

Von Februar 2004 bis Oktober 2005 lebte sie in Costa Rica. Eigentlich kam sie nur für 5 Monate her, um einen Sozialeinsatz in einer Primarschule mit behinderten Kindern zu leisten.

Sie verlängerte ihren Aufenthalt jedoch und arbeitete unter anderem als Freiwillige für das Rote Kreuz und unterrichtete in einer Privatuniversität Englisch.

Seit Juli 2010 ist sie in Costa Rica wieder als Freiwillige in verschiedenen Projekten tätig: So arbeitet sie etwa auf einer Schildkrötenfarm, für kurze Zeit bei der Waldfeuerwehr.

 
Neben Deutsch spricht sie Spanisch, Französisch und Englisch.

Sie reist, fotografiert und liest gerne und mag Aktivitäten in der Natur.

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