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Die Affäre Schweiz-Libyen im Rückblick

Staatspräsident Gaddafi rief auf dem Höhepunkt der Krise sogar einen "Heiligen Krieg" gegen die Schweiz aus. AFP

Die Geschichte der schwer belasteten Beziehungen der Schweiz mit Libyen ist gewürzt mit Gewalt, Polizeifotos, Geiseln, düpierten Bundesräten, einem Embargo und blockierten Grenzen.

Bevor die Geschäftsprüfungskommission des Schweizer Parlaments ihren Bericht präsentiert, wie die offizielle Schweiz die Krise gemanagt hat, wirft swissinfo.ch einen Blick zurück auf die Geschichte der strapazierten Beziehungen zwischen den beiden Nationen.

Der Ärger begann Mitte Juli 2008, als Hannibal Gaddafi, Sohn des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi, wegen angeblicher Misshandlung seiner Hausangestellten in einem Genfer Luxushotel, verhaftet wurde.

Er und seine hochschwangere Frau blieben zwei Tage inhaftiert. Nach der Bezahlung einer Kaution durften sie das Land verlassen. Nachdem die beiden Bediensteten eine Entschädigung erhalten hatten, widerriefen sie ihre Anschuldigungen.

Vergeltung

Die Verhaftung seines Sohnes und seiner Schwiegertochter brachte den libyschen Staatschef so sehr in Rage, dass er politische und wirtschaftliche Vergeltungsmassnahmen einleitete.

Er beschnitt die Öllieferungen in die Schweiz, zwang Schweizer Unternehmungen, ihre Büros in Libyen zu schliessen und reduzierte Ende 2008 auch die Flüge der Fluggesellschaft Swiss nach Tripolis.

Später rief Gaddafi zu einem Jihad oder “Heiligen Krieg” gegen die Schweiz auf.

Um den Druck weiter zu erhöhen, verhafteten die Libyer zwei Schweizer Geschäftsleute – Max Göldi und Rachid Hamdani. Diese wurden erst in libyschen Gefängnissen arrestiert, später durften sie in der Schweizer Botschaft in Tripolis Quartier beziehen.

Darauf versuchte eine ganze Reihe von Schweizer Delegationen, die beiden Männer nach Hause zu bringen. Im Mai 2009 besuchte Aussenministerin Micheline Calmy-Rey Libyen und berichtete von “bedeutenden Fortschritten”.

Doch im Juni 2009 zog Libyen die meisten seiner Vermögenswerte auf Schweizer Banken ab und schränkte die Aktivitäten der noch verbliebenen Schweizer Unternehmen im Land weiter ein. Bundespräsident Hans-Rudolf Merz reiste im August 2009 nach Tripolis, wo er den libyschen Ministerpräsidenten traf, nicht jedoch Staatschef Gaddafi.

Im Bemühen, die Beziehungen zu Libyen wieder zu normalisieren, unterzeichnete Merz eine Vereinbarung. Er entschuldigte sich ausserdem für die Verhaftung von Gaddafis Sohn. In der Vereinbarung verpflichteten sich die beiden Parteien, innert 60 Tagen ein internationales Tribunal einzurichten. Dieses wurde jedoch nie installiert.

Visa-Geschichten

Der September 2009 erwies sich als einer der turbulentesten Monate. Libyen brach sein Versprechen, dass die beiden Schweizer Bürger das Land bis zum 1. September verlassen dürften.

Am 4. September veröffentlichte die Zeitung Tribune de Genève Polizeifotos von der Verhaftung Hannibal Gaddafis – der dagegen prompt Klage einreichte.

Muammar Gaddafi und Hans-Rudolf Merz trafen sich am Rand der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York.

Im selben Monat verschwanden die beiden Schweizer Göldi und Hamdani, nachdem sie zu einem medizinischen Check in Tripolis aufgeboten worden waren. Bern betrachtete den Vorfall als Entführung. Die beiden kehrten erst im November wieder in die Schweizer Botschaft zurück.

Im Oktober war die 60-Tage-Frist zur Normalisierung der gegenseiteigen Beziehungen abgelaufen. Im folgenden Monat kündigte die Schweizer Regierung Visa-Restriktionen für libysche Bürger an.

Ende November verurteilte ein libysches Gericht Göldi und Hamdani in Abwesenheit – die beiden Männer wohnten nach wie vor in der Schweizer Botschaft – zu 16 Monaten Gefängnis wegen Visa-Verstössen.

Im Dezember reichte Hannibal Gaddafi Zivilklage ein wegen Persönlichkeitsverletzung durch die Veröffentlichung der Polizeifotos. Er forderte eine Genugtuung von 100’000 Franken.

Er verklagte die Zeitung Tribune de Genève, einen der Journalisten und den Kanton Genf. Die Behandlung des Falles wurde auf 2010 verschoben.

Neues Jahr, neues Spiel

Im Januar 2010 wurde Hamdanis Gefängnisstrafe aufgehoben. Im Februar wurde er von der Anklage, illegale Geschäfte getätigt zu haben, freigesprochen.

Göldi hatte nicht so viel Glück – seine Gefängnisstrafe wurde bestätigt, die Haftzeit jedoch von 16 auf vier Monate gekürzt.

Mitte Februar schrieb eine libysche Zeitung, die Schweiz habe eine schwarze Liste von 188 hochgestellten Libyern erstellt. Diese würden mit europaweiten Visarestriktionen belegt.

Die Affäre erhielt darauf eine gesamteuropäische Dimension, nachdem Libyen im Gegenzug für die von der Schweiz initiierten Visa-Restriktionen für hochgestellte Libyer nun auch Bürgern der meisten EU-Länder keine Visa mehr ausstellte.

Ende Februar gewährte Libyen Hamdani ein Ausreisevisum und verlangte, dass Göldi seine Haftstrafe antrete. Hamdani verliess Libyen.

Im März startete in Genf der Prozess wegen der Gadaffi-Polizeifotos. Libyen löste auch seine Visa-Restriktionen gegen EU-Bürger auf, nachdem Spanien, das die EU-Präsidentschaft inne hatte, angekündigt hatte, die Schwarze Liste gegen 188 Libyer sei ausser Kraft gesetzt worden.

Mitte April stellte sich für den Gaddafi-Clan auch in Genf ein Erfolg ein, als ein Gericht Hannibal Gaddafis Klage wegen der Veröffentlichung von Polizeifotos seiner Verhaftung gut hiess. Sein Anspruch auf Schadenersatz von 100’000 Franken wurde jedoch abgelehnt – ein Problem, das später geregelt werden sollte.

Happy End?

Nach fast zwei Jahren in Geiselhaft – darunter vier Monate im Gefängnis – wurde Max Göldi am 10. Juni 2010 aus dem Gefängnis entlassen. Er wurde daraufhin in ein Hotel in Tripolis gebracht, wo er auf sein Ausreisevisum warten musste.

Zwei Tage danach kam Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in Tripolis an, begleitet vom spanischen Aussenminister und dem italienischen Premierminister. In Gaddafis Beduinenzelt stimmten die Schweiz und Libyen schliesslich einem von Spanien und Deutschland vermittelten Aktionsplan zu. Ein Teil davon ist die Entschuldigung für die Publikation der Fotos von Hannibal Gaddafi.

Das Dokument hält fest, dass 1,5 Millionen Franken Kompensation an Libyen bezahlt werden müssten, sollte die Person nicht gefunden werden, die die Fotos an die Zeitung geschickt hatte.

Nachdem dies geklärt war, konnte die Delegation Göldi am 14. Juni 2010 zurück in die Schweiz bringen.

Das Krisenmanagement der Schweizer Regierung ist nicht das einzige Thema, das in der Libyen-Krise unter Beschuss gekommen war.

Es kam auch ans Licht, dass einige Bundesräte eine geheime Geiselbefreiungs-Aktion geplant hatten.

Die Frage, wer was wann wusste und wer den Befehl gegeben hatte, ist immer noch unklar.

Das Thema wird wohl im Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission über die Art und Weise, wie die Regierung die Krise bewältigte, aufgegriffen.

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