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Doris Leuthard geht mit Respekt ins Präsidialjahr

Das Schweizer Beziehungsnetz müsse gepflegt werden, betont Doris Leuthard. swissinfo.ch

Mit Verantwortung und Respekt geht Doris Leuthard in ihr Jahr als Bundespräsidentin. Ohne gute Beziehungen mit dem Ausland liessen sich die Wirtschaftsprobleme in der Schweiz nicht lösen, unterstreicht sie im swissinfo.ch-Interview.

swissinfo.ch: Frau Bundespräsidentin, von 2009 bleiben verschiedene Baustellen, verschiedene ungelöste Probleme. Gehen Sie eher mit Freude oder mit einer gewissen Sorge in Ihr Präsidialjahr?

Doris Leuthard: Primär mit einem Gefühl der Verantwortung. Es gibt in einem Präsidialjahr mit Sicherheit auch viele schöne Erlebnisse und spannende Begegnungen.

Aber man hat natürlich vor allem die Verantwortung, die offenen Fragen zu lösen, die Herausforderungen für unser Land zusammen mit der Gesamtregierung zu bewältigen. Insofern ist es Verantwortung – und Respekt.

swissinfo.ch: Welche Herausforderungen sind für Sie wichtiger: diejenigen im Ausland oder diejenigen im Inland?

D.L.: Das lässt sich nicht trennen. Die Schweiz verdient ja jeden zweiten Franken im Ausland: Wir sind darauf angewiesen, dass wir gute Beziehungen haben, dass unsere Firmen einen guten Marktzugang erhalten, dass unsere Reputation in einem guten Zustand ist.

Sonst kann man auch die Binnenprobleme nicht bewältigen – die sicher mit der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr einen weiteren Höhepunkt erreichen werden. Die Aussichten auf neue Jobs, Perspektiven, wie sich der Arbeitsmarkt erholen kann, das ist alles eng gekoppelt.

swissinfo.ch: Sie haben als eine Ihrer Prioritäten die Pflege der Beziehungen zu den Nachbarländern angekündigt. Was heisst das konkret?

D.L.: Es geht leicht vergessen, dass wir mit den Nachbarländern nach wie vor die intensivsten Beziehungen haben – kulturell, wirtschaftlich, verkehrs- und bildungsmässig. Wir sind mit ihnen eng verbunden.

Das bedingt, dass man laufend nicht nur mit der EU in Brüssel, sondern auch mit unseren Nachbarn das Gespräch sucht, um die grenzüberschreitenden Probleme lösen zu können.

swissinfo.ch: Solche Probleme gibt es ja derzeit – Stichwort Bankgeheimnis – sowohl mit Deutschland, Italien als auch mit Frankreich…

D.L.: In einer Wirtschaftskrise ist es natürlich immer so, dass sich Interessen verschieben. Finanzminister müssen ihre Kassen füllen und entsprechend ist die Schweiz im Fokus. Das heisst für den Bundesrat, dass wir mit Deutschland das Doppelbesteuerungsabkommen und die hängige Luftverkehrsfrage (Anm.d.Red.: der Streit ums Anflugregime auf den Flughafen Zürich) regeln wollen.

Mit Italien und Frankreich ist es dasselbe, auch dort gibt es offene Punkte bei den Steuerbeziehungen. Deshalb will ich diese drei Länder auch besonders im Auge behalten und begleiten.

swissinfo.ch: Es gibt Kritiker, die monieren, die Schweiz sei isoliert, habe kaum mehr Alliierte. Was wollen Sie da tun?

D.L.: Wir sind nicht isoliert, auch wenn jetzt in der Krise dieser Eindruck entstehen mag. Wir haben ein gutes Beziehungsnetz. Aber das muss man eben pflegen, gerade wenn man nicht Mitglied einer Gruppe wie der Europäischen Union, der Nato oder der G-20 ist.

swissinfo.ch: Auf Ihrer Liste für dieses Jahr steht auch die Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen mit China.

D.L.: China ist für den Bundesrat ein prioritäres Land. Im Hinblick auf das angestrebte Freihandelsabkommen wird China für mich im Zentrum mindestens eines Besuches stehen, wahrscheinlich werden wir auch umgekehrt einen hochrangigen chinesischen Besuch in der Schweiz haben.

swissinfo.ch: Sollte die Schweiz aber, was noch nicht vom Tisch ist, zwei uigurische Häftlinge aus Guantanamo aufnehmen, dann würden die Beziehungen zu China getrübt.

D.L.: Der Bundesrat hat aus humanitären Gründen entschieden, den USA zu helfen, das Guantanamo-Problem zu lösen. Wir – konkret der Kanton Genf – haben entschieden, eine Person, einen Usbeke, aufzunehmen.

Etwas anderes ist derzeit nicht beschlossen. Insofern erübrigt sich momentan diese Frage.

swissinfo.ch: Zurück ins Inland. Die Arbeitslosenzahlen werden weiter zunehmen, gleichzeitig wollen Sie die Arbeitslosenversicherung (ALV) reformieren. Kritiker sprechen da von einem Widerspruch.

D.L.: Das strukturelle Defizit der ALV muss saniert werden. Es rührt daher, dass selbst in guten Zeiten Fehlbeträge entstanden sind. Die Schulden wachsen an. Das können wir nicht erst in der Hochkonjunktur lösen.

Das in Revision stehende Gesetz nimmt den derzeit arbeitslosen Personen aber nichts weg. Erst später, wenn die Krise vorbei ist, werden die Eintrittsschwelle erhöht und längere Beitragszeiten verlangt.

Dieser Leistungsabbau ist zumutbar, denn Höhe und Dauer der Taggelder werden beibehalten. Der Kern der ALV wird durch diese Revision somit nicht tangiert.

Von jungen Leuten wird bei der Arbeitssuche künftig jedoch mehr Flexibilität verlangt, das ist richtig. Aber man kann immer Angst schüren. Ich halte die Änderungen für tragbar. Junge Leute sind flexibler. Sie haben meist noch keine familiären Verpflichtungen und sind weniger an einen Standort gebunden. Es ist somit vertretbar, sie bei der Beurteilung der Zumutbarkeit strenger zu behandeln als zum Beispiel eine 55-jährige alleinerziehende Mutter, die ihre Arbeit verloren hat.

swissinfo.ch: Ein Reformbedarf wird auch in Ihrem Siebnergremium, in der Arbeitsweise und in der Struktur der Regierung, geortet. Wie soll dies aussehen?

D.L.: Es ist mein Ziel, dass wir eine solche Reform nicht nur ein weiteres Mal diskutieren, sondern auch verabschieden. Die Zusammenarbeit mit dem Parlament und mit dem Ausland nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Ich glaube, der politische Wille für eine Optimierung ist da.

Andreas Keiser und Eva Herrmann, swissinfo.ch

Das Schweizer Parlament wählt jährlich ein Regierungsmitglied nach dem Rotationsprinzip zur Bundespräsidentin, zum Bundespräsidenten.

Der Präsident, die Präsidentin leitet die Sitzungen und gilt als “primus inter pares”.

Die Bundesrätin, Jahrgang 1963, ist ausgebildete Rechtsanwältin.

Sie gehört der Regierung seit 2006 an, sie vertritt die christlichdemokratische Volkspartei (CVP), die sie zuvor präsidierte.

Doris Leuthard freut sich, dass sich so viele Auslandschweizer am politischen Leben beteiligen und abstimmen.

Einen speziellen Akzent bei den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern wird sie in ihrem Präsidialjahr nicht setzen.

“Alle Schweizerinnen und Schweiz sind mir gleich wichtig. Mir geht es um das Land und um alle, die damit verbunden sind. In diesem Sinne sind auch Auslandschweizer hier integriert.”

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