Die Helvetier waren besser als ihr Ruf
Migration, Identität, Grenzen – schon vor über 2000 Jahren prägten diese Themen Europa. Die Helvetier, von den Römern als nomadische Unruhestifter beschrieben, rücken gerade in ein neues Licht: Sie waren gut vernetzt und zugleich sesshaft.
Für Julius Cäsar waren die Helvetier die grossen Unruhestifter Europas. In seinem Bericht über die Gallischen Kriege schildert der römische Feldherr sie als kampflustiges, ruheloses Volk, das aus Platzmangel seine Heimat verliess und sich über halb Europa in Bewegung setzte.
Die Helvetier, schreibt Cäsar, hätten ihr Land zwischen Rhein, Jura und Rhone verlassen wollen, weil es zu eng geworden sei und weil sie sich «nach Eroberung sehnten».
Die Helvetier waren ein keltischer Volksstamm, der vor allem im schweizerischen Mittelland lebte. Noch heute ist der Name «Helvetier» eng mit der Schweiz verbunden. Ihre lateinische Bezeichnung «Confoederatio Helvetica» erinnert an die keltische Vergangenheit.
Wir befinden uns in der späten Eisenzeit, rund fünfzig Jahre vor Christi Geburt. Zentraleuropa ist ein Mosaik aus Wäldern, Siedlungen und Handelswegen. Die Grenze verläufte zwischen der fortgeschrittenen Welt des Mittelmeers und den wilden Landschaften des Nordens. Die Helvetier leben mittendrin, im Spannungsfeld der Germanen im Norden und des expandierenden Roms im Süden.
Mythos und Wirklichkeit
Doch über die Helvetier wissen wir weit weniger, als die Mythen vermuten lassen. Sie schrieben – wie andere Kelten auch – nichts auf, zumindest nichts, das überdauert hätte. Alles, was wir an historischen Quellen besitzen, stammt von den Römern. Dieses Bild prägt bis heute die Vorstellung der «wandernden Kelten».
Wo Worte fehlen, sprechen jedoch Spuren im Boden: Gräber, Münzen, Werkzeuge, Waffen, Kultstätten. In der Schweiz sind Keltenfunde zahlreich, etwa das Grabfeld von Münsingen im Kanton Bern mit über 250 Gräbern, die Opferstätte von Mormont im Kanton Waadt mit hunderten Tieropfern, die Siedlung Basel-Gasfabrik mit Handelsbeziehungen über den Rhein hinaus oder die Funde von La Tène am Neuenburgersee, die einer ganzen Epoche ihren Namen gaben.
Neuer Blick auf alte Helvetier-Knochen
Dank neuer Methoden rückt die Forschung den Schweizer Kelten nun immer näher. Marco Milella und Zita Laffranchi stehen dabei an einem spannenden Punkt: Ihr Projekt CeltudalpsExterner Link – eine Kooperation der Universität Bern und Eurac Research in Bozen – untersucht, wie beweglich keltische Gruppen in der Schweiz und in Norditalien während der späten Eisenzeit waren.
Die beiden Anthropologinnen, früher an der Uni Bern tätig und heute an den Universitäten Pisa (Milella) und Córdoba (Laffranchi), kombinieren archäologische, anthropologische, isotopische und genetische Analysen, um Wanderungen, Verwandtschaftsbeziehungen und Austausch über die Alpen hinweg sichtbar zu machen. Die gewonnenen Daten stammen aus den Jahrzehnten vor Cäsars berühmtem Helvetier-Feldzug – aus einer Zeit also, bevor Rom die Alpenwelt eroberte.
«Die Alpen waren auch damals keine Grenze, sondern eine Brücke, lange vor den Römern», sagt Zita Laffranchi. «Das Leben war hart, aber unsere Daten zeigen: Die Alpen waren ein Korridor für Güter, Menschen und Ideen.»
Helvetier: Spuren der Bewegung
Isotopenanalysen an Zähnen und Knochen verraten, wo ein Mensch lebte und starb. Die chemischen Signaturen aus Strontium, Sauerstoff und Schwefel sind eine Art geologischer Fingerabdruck – sie zeigen die Zusammensetzung von Böden ebenso wie klimatische Einflüsse der jeweiligen Region.
Das Ergebnis zeichnet ein vielschichtiges Bild: Die meisten Individuen blieben ein Leben lang in derselben Region, verwurzelt in ihren Gemeinschaften und eingebunden in lokale Netzwerke. Nur wenige zeigen deutliche Abweichungen in ihren Isotopenwerten, die auf längere Reisen oder Herkunft aus weiter entfernten Gebieten hinweisen.
«Für grosse Wanderungen sehen wir bislang keine Anzeichen», sagt Milella. «Eher einzelne Bewegungen, punktuelle Zuzüge in eine stabile Bevölkerung. Fremde tauchen auf, aber nicht in Scharen.»
Das spricht dafür, dass die Helvetier eher sesshaft als nomadisch lebten.
Mobilität war dennoch Teil des Alltags: Händler, Handwerker und Heiratsverbindungen verbanden Täler und Siedlungen zu einem dichten Netz. Die Helvetier waren somit also keine rastlosen Nomaden, sondern vernetzte Siedler im Herzen Europas.
Cäsars Helvetier-Story im Faktencheck
Vieles, was Cäsar und andere römische Schriftsteller beschrieben – von grossen Wanderungen und Kriegszügen der Helvetier –, lässt sich wissenschaftlich bislang nicht belegen.
Auch konkrete Aspekte seiner Überlieferung bleiben fraglich. Cäsar berichtet, die Helvetier hätten zwölf Städte und über vierhundert Dörfer niedergebrannt, bevor sie mit 368’000 Menschen nach Westen zogen. Bei Bibracte, im heutigen Burgund, seien sie von den Römern gestellt und besiegt worden.
Cäsar nennt 258’000 Tote; 110’000 Überlebende seien nach Helvetien zurückgeschickt worden, wo sie als Bollwerk gegen die Germanen dienen sollten. Bis heute wurden jedoch weder Spuren verbrannter Keltenstädte noch das Schlachtfeld von Bibracte gefunden.
Langfristig, so die Forschenden, wäre es spannend, die Schweizer Daten mit solchen aus anderen mitteleuropäischen Regionen – etwa aus Frankreich – zu vergleichen. Auch spätere, römische und frühmittelalterliche Proben könnten künftig wertvolle Vergleichspunkte liefern und zeigen, wie sich vermeintlich historische Prozesse wie jene bei Cäsar in biologischen Daten widerspiegeln – und wie die römische Eroberung und die Vermischung mit den Kelten tatsächlich verliefen.
Das Celtudalps-Projekt befindet sich derzeit in der Auswertungsphase. «Die Projektfinanzierung lief im Mai 2024 aus, aber wir haben viele Isotopen- und Genomdaten gesammelt», sagt Milella. Neue Ergebnisse sollen 2026 erscheinen.
Editiert von Balz Rigendinger
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