KI in der Schweiz: Alternativen zu Big Tech sind möglich
Die Schweiz kann in Bezug auf künstliche Intelligenz und die digitale Welt unabhängiger von Technologiegiganten wie Microsoft sein, sagt ein führender Experte für digitale Souveränität.
Die Schweiz ist stark von ausländischen digitalen und KI-Technologien abhängig. Rund 75% der hiesigen FirmenExterner Link nutzen für Aufgaben wie Textgenerierung, Programmierung und Datenanalyse hauptsächlich KI-Plattformen wie ChatGPT oder das Microsoft-Tool Copilot. Diese Zahl entspricht dem globalen TrendExterner Link.
Auch die Bundesverwaltung verlässt sich auf die digitalen Angebote grosser US-Technologieunternehmen, am meisten auf Produkte von Microsoft.
Ein Anbieterwechsel wird als «zu risikoreich und aufgrund der zahlreichen Abhängigkeiten zu Fachanwendungen als zu aufwendig» angesehen. So begründet es die Bundesverwaltung 2023 in einer ErklärungExterner Link, in der sie den Umstieg auf Microsoft 365 ankündigte.
Dennoch wächst inzwischen das Bewusstsein, dass die Abhängigkeit von Technologien der Big Tech – also grosser Technologiekonzerne wie Microsoft, Amazon oder OpenAI – Risiken birgt.
Der Chef der Schweizer Armee, Thomas Süssli, schrieb kürzlich in einem internen BriefExterner Link an die Bundeskanzlei, der vom Online-Magazin Republik veröffentlicht wurdeExterner Link, dass die Microsoft-Software weitgehend unbrauchbar sei für die Armee, da hier keine klassifizierten Dokumente gespeichert werden könnten – und die meisten Armeedokumente genau dies seien.
«Solange unsere Dokumente in der Cloud von Microsoft liegen, kann die US-Regierung darauf zugreifen», sagt Matthias Stürmer, Leiter des Instituts Public Sector Transformation an der Berner Fachhochschule und Experte für digitale Souveränität.
Die geopolitischen Risiken hätten unter der neuen US-Regierung zugenommen, weil «die US-Regierung sich nicht mehr an die Regeln hält», so Stürmer.
Ende letzten Jahres kündigte die Bundesverwaltung an, 140 Millionen Franken für die Verlängerung der Microsoft-Lizenzen um drei JahreExterner Link auszugeben. Stürmer aber sagt, dass die Schweiz ohne grossen Aufwand und schon mit einer Investition von nur 10% der Ausgaben für IT-Systeme grosser US-Technologieunternehmen mehr digitale Souveränität erlangen könnte.
«Es ist nicht unmöglich, aus dem ‘goldenen Käfig’ teurer digitaler Dienste auszubrechen, in den uns die Big Tech-Unternehmen einsperren möchten», so Stürmer.
Bei der Verlängerung ihres jüngsten Vertrags mit Microsoft erklärte die Bundesverwaltung, sie prüfe Open-Source-Alternativen, um ihre «zahlreichen Abhängigkeiten» von der proprietären Software des US-Technologiegiganten zu reduzieren.
Ideale Bedingungen für digitale Souveränität
Die Schweiz habe gute Voraussetzungen, eine eigene digitale Infrastruktur aufzubauen, sagt Stürmer: dank ihrer Universitäten, einer starken Gemeinschaft von Computeringenieur:innen und einem wachsenden Ökosystem von Open-Source-Lösungen.
Der Bund hat bereits begonnen, in die nationale IT-Infrastruktur und -Technologien zu investieren. Im Bereich der KI hat die Schweiz mehr als 100 Millionen Franken für den Supercomputer Alps und die Swiss AI Initiative ausgegeben.
Diese hat im September Apertus, das erste vollständig offene und öffentliche Large Language Model (LLM) der Schweiz, auf den Markt gebracht.
Um die digitale Transparenz zu stärken, schreibt ein Schweizer Gesetz vorExterner Link, dass alle staatseigenen Softwareprogramme öffentlich zugänglich gemacht werden müssen – ein Fortschritt, den EU-Analyst:innen als europaweiten «rechtlichen Meilenstein» bezeichnenExterner Link.
Apertus wiederum ist laut Stürmer ein Beispiel dafür, wie die Schweiz eigene und EU-konforme KI-Tools entwickeln kann, die eine echte Alternative zu denen der Big Tech darstellen.
«Sie wollen uns glauben machen, dass nur sie in der Lage sind, KI zu entwickeln und zu verwalten», sagt Stürmer. «Aber das ist falsch. Die Schweiz darf sich dieser Behauptung nicht beugen.»
Aber nicht alle Expert:innen teilen diese Meinung. Marcel Salathé, Co-Leiter des Zentrums für KI an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), glaubt, dass Modelle wie Apertus zwar einen Fortschritt darstellen – einen Durchbruch allerdings nicht.
Der Markt für wichtige Ressourcen für den Aufbau von KI-Systemen – wie Rechenleistung, Chips und Daten – werden nach wie vor von einigen wenigen Technologiemächten dominiert.
«So etwas wie Souveränität gibt es nicht im Bereich der KI, weil diese Technologie in den Händen von China und den Vereinigten Staaten liegt», sagt Salathé.
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Umgang mit sensiblen Daten
Stürmer hingegen ist der Ansicht, dass Initiativen wie Apertus für den digitalen Wandel der Schweiz in allen Gebieten, einschliesslich der Medizin, von entscheidender Bedeutung sind – auch wenn sie in ihrem Umfang nicht mit GPT-5 vergleichbar sind.
«Wir können ChatGPT nicht für sensible medizinische Daten verwenden», sagt er. «Apertus ist notwendig, weil es transparent und unabhängig von politischen und kommerziellen Interessen ist.»
Zudem gebe es neben Apertus bereits Hunderte von Open-Source-Softwareprogrammen und digitale Plattformen, die in der Schweiz oder anderen europäischen Ländern verwendet und entwickelt werden, so Stürmer. Diese könnten US-amerikanische Tools ersetzen und die technologische Autonomie der Schweiz stärken.
Ein Beispiel ist OpendeskExterner Link, eine Alternative zu Microsoft Office, die in Deutschland vom Zentrum für digitale Souveränität entwickelt wurde. Um diese Lösungen sichtbarer zu machen, half Stürmer mit bei der Gründung des Netzwerks für eine souveräne digitale SchweizExterner Link, das öffentliche und private Organisationen in der Schweiz zusammenbringt.
Die Welt rückt immer näher an die selbständige KI heran
Heute gibt es bereits mehr als zwei Millionen Open-Source-KI-Modelle, die auf Plattformen wie Hugging Face veröffentlicht wurden, wo sie geteilt und heruntergeladen werden können.
Dazu gehört auch das in der Schweiz ansässige Unternehmen Apertus, «das einzige europäische LLM unter den Top Ten weltweit auf Hugging Face», sagt Joshua Tan, ein in den USA ansässiger Softwareentwickler und Gründer von Metagov, einer Forschungsgemeinschaft für digitale Autonomie.
«Apertus zeigt, dass es möglich ist, ein hochentwickeltes KI-Modell zu erstellen, ohne Daten aus dem Internet zu stehlen», sagt Tan.
Die Erzählung der Big Tech – dass niemand mit ihren KI-Systemen konkurrieren kann und dass diejenigen, die es versuchen, zurückbleiben werden – überschatte den Fortschritt in Richtung digitaler Souveränität, so Tan.
Neben der Schweiz haben bereits mehrere andere Länder Schritte unternommen, um in Zusammenarbeit mit nationalen Forschungslabors oder öffentlich finanzierten Organisationen eigene KI-Modelle zu entwickeln. Dazu gehören Singapur, Spanien und Schweden. Dazu gehören Singapur, Spanien und Schweden.
Weitere würden folgen werden, ist Tan überzeugt. Er plädiert für eine Allianz nationaler Regierungen, um die Entwicklung souveräner KI-Lösungen effektiver voranzutreiben.
«Wir sind näher dran, als viele denken: Wenn wir diese Modelle umsetzen, werden die Menschen erkennen, dass dies nicht nur eine Utopie ist, sondern etwas, das ihr Leben in der Gegenwart wirklich verändern kann.»
Editiert von Veronica De Vore, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/raf
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