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Trotz Gegenwind: Die Schweiz treibt die Gendermedizin voran

Frauen werden oft später diagnostiziert und berichten häufiger über Nebenwirkungen von Medikamenten als Männer.
Frauen werden oft später diagnostiziert und berichten häufiger über Nebenwirkungen von Medikamenten als Männer. Keystone / Christian Beutler

Gendermedizin kämpft um ihre Etablierung. Finanzierungslücken und politischer Widerstand erschweren dies enorm. Eine Gruppe von Pionierinnen und Pionieren unter Schweizer Ärzt:innen lässt sich davon nicht aufhalten.

Als Carolin Lerchenmüller im letzten Jahr zur ersten ordentlichen Professorin für Gendermedizin in der Schweiz ernannt wurde, erklärte sie gegenüber Swissinfo, dass sie kein Aushängeschild sein wolle. Ihr Ziel sei es, die Gendermedizin als «vollwertige akademische Disziplin» zu etablieren.

Diese Ansicht wiederholte die deutsche Kardiologin an der Universität Zürich am Montag auf dem ersten Schweizer Symposium für Gendermedizin in Bern. «Am Anfang braucht es Pioniere», sagte Lerchenmüller. «Aber längerfristig darf Gendermedizin nicht mit einzelnen Personen in Verbindung gebracht werden. Sie muss institutionalisiert werden.»

Gendermedizin ist ein neues Fachgebiet, das davon ausgeht, dass Gesundheit und Krankheit durch das biologische Geschlecht und die sozialen Geschlechterrollen beeinflusst werden. Ziel ist es, die biologischen und soziokulturellen Aspekte in Forschung, medizinischer Praxis und Ausbildung zu integrieren.

Das biologische Geschlecht bezieht sich auf biologische Merkmale wie Chromosomen, Hormone und Anatomie. Diese beeinflussen beispielsweise die Entwicklung von Krankheiten und die Verstoffwechselung von Medikamenten. Das soziale Geschlecht (Gender) bezieht sich auf soziale und kulturelle Rollen und Identität. Es beeinflusst beispielsweise, wie Menschen medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, wie Symptome kommuniziert oder wahrgenommen werden und welchen Risiken oder Stressfaktoren sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind. Quelle: UZH

In Richtung dieses Ziels wurde bereits viel erreicht, wie Lerchenmüller sagt. So gibt es nun eine Schweizerische Gesellschaft für Gender-GesundheitExterner Link, ein nationales ForschungsprojektExterner Link zur Gendermedizin und einen Entwurf für Richtlinien zur Berücksichtigung von Geschlecht und Gender in der Kardiologie.

Sie sagt jedoch, dass dieser Bereich weltweit mit Gegenwind zu kämpfen hat. Seit seinem Amtsantritt hat US-Präsident Donald Trump einen umfassenden Angriff auf Vielfalt und Inklusion am Arbeitsplatz und in der Forschung gestartet.

US-Gesundheits- und Wissenschaftsbehörden haben in der Folge die Finanzierung für Hunderte Projekte gestrichen und Webseiten sowie Leitfäden zum Thema Geschlechtervielfalt überarbeitet. Auch Pharmaunternehmen haben unter Druck ihr Engagement und ihre Ziele in Bezug auf Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion zurückgefahren.

Lerchenmüller ist davon zwar nicht direkt betroffen, aber: «Wenn der grösste öffentliche Geldgeber der Welt massive Kürzungen vornimmt, ist das ein Problem für alle», sagt sie gegenüber Swissinfo.

Dank der grossen Zahl von Menschen, die die Gendermedizin vorantreiben wollen, bleibt sie jedoch optimistisch. Viele US-Experten seien nun eher bereit, mit europäischen Partnern zusammenzuarbeiten. «Die Schweiz gewinnt in diesem Bereich zunehmend an Sichtbarkeit, da sie seit einem Jahrzehnt darauf drängt, dass die Verantwortlichen dieses Thema ernst nehmen.»

Dies zeigte sich auch beim ersten Schweizer Symposium zur Gendermedizin, das am 20. und 21. Oktober in Bern stattfand. Rund 280 Personen aus Wissenschaft, Industrie und dem öffentlichen Sektor nahmen an dem zweitägigen Symposium teil.

Die Expertinnen für Gendermedizin Carole Clair (links), Carolin Lerchenmüller (Mitte) und Cathérine Gebhard (rechts).
Die Expertinnen für Gendermedizin Carole Clair (links), Carolin Lerchenmüller (Mitte) und Cathérine Gebhard (rechts). Swiss Gender Medicine Symposium/Sandra Blaser

Ein langer Weg

Im Bereich der geschlechtsspezifischen Medizin bleibt in der Schweiz noch einiges zu tun. Abgesehen vom politischen Gegenwind in den USA stehen nur sehr wenige Finanzmittel zur Verfügung.

Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) startete Ende 2023 das erste Programm zum Thema «Geschlechtsspezifische Medizin und Gesundheit» mit einem Budget von 11 Millionen Franken, während das Gesamtjahresbudget bei 47 Millionen Franken liegt. Von den 389 Forschenden, die sich beworben haben, wurden rund 140 Vorschläge eingereicht. Das Budget reichte jedoch nur für die Finanzierung von deren 19.

«Die Anzahl der eingereichten Vorschläge zeigt, dass die Menschen in der Schweiz sich für dieses Thema interessieren und es erforschen möchten», erklärte Lerchenmüller den Teilnehmer:innen des Symposiums. «Wir brauchen nur mehr Mittel, um dies zu tun.»

Elf Millionen Franken über fünf Jahre sind wenig. «Für ein so komplexes Thema, bei dem so viel auf dem Spiel steht, ist dieser Betrag lächerlich», sagt Antonella Santuccione Chadha, Ärztin und Neurowissenschaftlerin, die die in Basel ansässige Women’s Brain Foundation gegründet hat. «Wir schulden den Frauen ein Jahrhundert Forschung.»

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Das nationale Programm ist dennoch ein Fortschritt für die Schweiz, die in diesem Bereich hinter anderen Ländern zurückgeblieben ist. Erst 2019 führte das Zentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit (Unisanté) der Universität Lausanne als erstes im Land Kurse zum Einfluss von Geschlecht und Gender auf die Gesundheit in seinen medizinischen Lehrplan ein. Dies geschah zeitlich weit hinter einigen Universitäten in den USA, Deutschland und Schweden.

Weniger Polarisierung

Laut Lerchenmüller besteht die grösste Herausforderung nach wie vor darin, den Menschen die geschlechtsspezifische Medizin näherzubringen. 

«Geschlecht mag für manche Menschen ein polarisierender Begriff sein, aber das liegt möglicherweise daran, dass sie nicht verstehen, was er im medizinischen Kontext bedeutet», sagt Lerchenmüller.

Für Chirurgen wie Guido Beldi vom Inselspital, dem grössten Krankenhaus Berns, gibt es sehr praktische und lebensrettende Gründe, Geschlecht und Gender zu berücksichtigen – insbesondere bei Lebertransplantationen.

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Er nennt als Beispiel, dass bei männlichen Patienten Adrenalin schneller ausgeschüttet wird. Das schützt sie, wenn der Blutdruck während der Operation sinkt. Frauen hingegen scheiden das wichtigste «Stresshormon», Cortisol, über einen längeren Zeitraum aus. Dies unterstützt die Heilung und könnte erklären, warum sich Frauen in der Regel schneller von einer Operation erholen.

Die Unterschiede gehen über die Anatomie hinaus. Beldi erklärte den Teilnehmer:innen des Symposiums, dass Frauen tendenziell später zur Operation überwiesen werden und ihnen seltener die fortschrittlichsten Operationsmethoden angeboten werden.

«Das Geschlecht der Patientinnen und Patienten bestimmt, wie sie auf eine Operation reagieren, das soziale Geschlecht gibt an, wann und wie sie behandelt werden», sagte Beldi. Die Berücksichtigung biologischer und sozialer Faktoren stellt sicher, dass Patient:innen eine auf sie zugeschnittene, personalisierte Versorgung erhalten.

«Es gibt aber noch viel Unbekanntes über die geschlechtsspezifischen Unterschiede, insbesondere in verschiedenen Altersstufen. Das erfordert weitere Forschungen», so Beldi.

Ärzt:innen, die in der Schweiz Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisten, sind sich bewusst, dass der Begriff «Gendermedizin» nach wie vor politisch brisant ist. Sie hoffen, das Symposium zu einer jährlichen Veranstaltung zu machen, die sich nicht nur an Fachleute aus dem Gesundheitswesen, sondern auch an Politiker:innen und Führungskräfte aus der Wirtschaft richtet.

«In der Schweiz besteht die Gefahr einer Gegenreaktion, wenn wir über Geschlechterfragen sprechen, insbesondere, wenn wir sehen, was in den USA geschieht», sagte Carole Clair, Ärztin bei UniSanté in Lausanne und Präsidentin des Lenkungsausschusses für das nationale Programm zur Gendermedizin. «Wir müssen das Thema entpolarisieren.»

Editiert von Virginie Mangin/sbs

Übersetzt mit Hilfe von deepl: Balz Rigendinger

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