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Das Luxusproblem: Einheimische kämpfen um Wohnraum in Graubünden

Pontresina
Das Bündner Dorf Pontresina liegt auf 1805 m Höhe. Etwa 2100 Menschen leben ständig dort. swissinfo.ch / Vera Leysinger

In der Gemeinde Pontresina, in der Nähe des exklusiven Ferienorts St. Moritz, machen Zweitwohnungen mittlerweile 58% des Wohnungsbestands aus. Mangels bezahlbarer Angebote sehen sich die Bewohnerinnen und Bewohner oft gezwungen, das Tal zu verlassen.

Der Rathaus-Vorplatz von Pontresina ist mit Kreidezeichnungen von Kindern übersät. “Gleich nebenan ist eine Schule. Wenn die Familien wegziehen, muss sie geschlossen werden. Wenn unser Dorf weiterleben soll, müssen wir jetzt handeln”, sagt Nora Saratz Cazin, Gemeindepräsidentin von Pontresina.

Eine Familie mit drei kleinen Kindern möchte schon länger wegziehen – weil es ihr im Dorf zu teuer geworden ist.

“Wir haben gerade wieder eine Absage für eine Wohnung bekommen. Das ist wirklich entmutigend. Seit über einem Jahr suchen wir ein neues, bezahlbares Dach über dem Kopf, immer noch ohne Erfolg”, sagt Marcel Schenk.

Er ist Bergführer in Pontresina, einem Dorf mit etwas mehr als 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Kanton Graubünden, und lebt mit seiner Familie in einer beengten Zweieinhalbzimmerwohnung. Doch eine neue Wohnung ist nicht zu finden.

Der 40-Jährige, der seit 18 Jahren im Dorf wohnt, erzählt, dass es vielen anderen ähnlich geht. “Unsere Bekannten möchten unseren Mietvertrag übernehmen, sobald wir wegziehen. Wir haben werden aber wohl noch lange keine neue Wohnung finden”, sagt er.

Ein Mann, im Hintergrund seine Familie
Marcel Schenk während des Interviews mit SRF für die Sendung “Schweiz Aktuell” vom 6. Februar 2024. SRF

Pontresina liegt am Eingang des Berninatals im Oberengadin, nur einen Steinwurf vom berühmten Ferienort St. Moritz entfernt. Es ist von einer beispiellosen Wohnungsnot betroffen.

Dieses Phänomen betrifft alle touristischen Bergregionen der Schweiz, speziell die Kantone Bern, Wallis und Graubünden.

Allein in den Bündner Bergen fehlen laut Wirtschaftsforum Graubünden rund 2500 Wohnungen. In den sozialen Netzwerken werden Aufrufe von Familien tausendfach geteilt, die verzweifelt eine Wohnung oder ein Haus suchen. Meistens ohne Erfolg.

Die Coronavirus-Krise als Ursache

Für Immobilienunternehmen ist es viel interessanter, Luxusimmobilien anzubieten, die an Gäste von ausserhalb vermietet oder teuer verkauft werden können, als normale Wohnungen an Einheimische.

Für diese ist es daher zu einem Spiessrutenlauf geworden, in ihrer Gegend eine bezahlbare Wohnung zu finden. Familien sehen sich oft gezwungen, weit ausserhalb ihrer Nachbarschaft oder sogar ausserhalb der Tourismusgebiete zu suchen, wenn sie preiswerteren Wohnraum suchen.

Im besten Fall werden sie an den Dorfrand gedrängt, wo sie in Mietshäusern wohnen. Und das lokale Leben, das den Charme des Orts ausmacht, stirbt langsam aus.

Die Nachfrage nach Zweitwohnungen wurde durch die Coronavirus-Pandemie angekurbelt. In Pontresina machen diese mittlerweile 58% des Wohnungsbestands aus.

“Aus der ganzen Schweiz sind Personen mittleren Alters zugezogen, um von den Möglichkeiten des Homeoffice zu profitieren oder sich vorzeitig pensionieren zu lassen. Dieser Zuzug hat den Wegzug von Familien mit kleinen Kindern beschleunigt, die durch kaufkräftigere Zugezogene verdrängt wurden”, sagt Nora Saratz Cazin, grünliberale Gemeindepräsidentin von Pontresina.

Dadurch steigt die Zahl der “kalten Betten”. Die neuen Eigentümerinnen und Eigentümer vermieten ihre Liegenschaften nur ungern, wenn sie abwesend sind.

Frau vor einer Ortskarte
Nora Saratz Cazin ist die Gemeindepräsidentin von Pontresina. Während des Interviews mit SWI swissinfo.ch erklärt sie anhand einer Karte des Dorfs die Schwierigkeiten beim Zugang zu Wohnraum. swissinfo.ch / Vera Leysinger

Perverse Auswirkungen der Zweitwohnungsinitiative

Diese Situation ist zum Teil auf die perversen Auswirkungen von Gesetzen zurückzuführen, die – ursprünglich – die lokale Bevölkerung und die Landschaft vor der Immobilienspekulation schützen sollten.

Im Jahr 2012 sagte das Schweizer Stimmvolk Ja zur ZweitwohnungsinitiativeExterner Link, die den Anteil von Zweitwohnungen am kommunalen Wohnungsbestand auf 20% beschränkt.

Allerdings gibt es ein Schlupfloch in der Umsetzung: Die 20%-Grenze bezieht sich auf die Wohnfläche. Die Umnutzung bestehender Gebäude in Zweitwohnungen ist jedoch nicht verboten.

Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, werden immer mehr normale Wohnungen zu Luxusimmobilien umgebaut, die für die Dorfbevölkerung unerschwinglich sind.

Erschwerend kommt eine weitere Gesetzesänderung hinzu. Die Revision des RaumplanungsgesetzesExterner Link (RPG) von 2021 zielt darauf ab, die Siedlungsgebiete zu verdichten, um den Eingriff in die Naturlandschaften zu verhindern.

“Diese beiden Gesetze haben (…) fatale Konsequenzen für unsere Dörfer. Weder das eidgenössische Zweitwohnungsgesetz noch die kommunale Gesetzgebung sehen griffige Massnahmen vor, um Erstwohnungen zu schützen”, heisst es auf der Website des Vereins Anna FlorinExterner Link, der die Unterengadiner Gemeinden im Kampf gegen den Druck des Zweitwohnungsmarkts unterstützt.

Pensionierte werden aus dem Tal vertrieben

Was sind die Konsequenzen? Sie folgen einem inzwischen bekannten Muster: “Seit Jahrzehnten werden vor allem historische Engadinerhäuser von Einheimischen an zahlungskräftige Eigentümer:innen verkauft, umgebaut und als Ferienhäuser zu beliebten, in der Zwischensaison aber häufig leer stehenden Rückzugsorten umgenutzt”, heisst es bei Anna Florin.

Die Seniorinnen und Senioren verschwinden nach und nach aus den Dörfern. Mangels finanzieller Mittel sind Erbende oft gezwungen, den Familienbesitz an Immobilienfonds oder Bauunternehmen zu veräussern.

Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als aus dem Tal wegzuziehen und Platz zu machen für reiche Städterinnen und Städter auf der Suche nach einem Stück Natur.

Das Schicksal der “Chesa Faratscha” am Rand von Pontresina illustriert diese traurige Spirale. Im Jahr 2022 wurde den Bewohnerinnen und Bewohnern der drei schönen historischen Gebäude, in denen sie oft ein Leben lang wohnten, gekündigt. Die Häuser gehörten früher der Post und beherbergten unter anderem Pensionierte dieser Institution.

Vor zwei Jahren wurde die Liegenschaft über die Pensionskassen an die Zuger Firma Neue Haus AG verkauftExterner Link. Die neue Eigentümerschaft hat die Liegenschaft ersteigert und will sie zu einer gehobenen Adresse umbauen. Die Umbauarbeiten haben bereits begonnen.

Die einkommensschwächeren Mieterinnen und Mieter konnten in der Umgebung keine Wohnungen mehr finden. Alle Pensionierten mussten das Tal verlassen und ihre sozialen Bindungen aufgeben.

Grosses Wohnhaus
Die “Chesa Faratscha” in Celerina wird umgebaut. swissinfo.ch / Vera Leysinger

Die Bauunternehmen wehren sich

Andry Niggli, Geschäftsführer von Niggli & Zala Immobilien, ist Präsident des Oberengadiner Hauseigentümerverbands. Seiner Meinung nach lässt sich die Wohnungsnot auch ohne proaktive Massnahmen zugunsten der Einheimischen lösen.

“Die Behörden müssen einfach die Planungsinstrumente nutzen, um die Schaffung von Erstwohnungen zu fördern”, meint er.

Nach Ansicht von Gemeindepräsidentin Saratz Cazin wird dies jedoch nicht ausreichen. Sie wünscht sich, dass Zweitwohnungsbesitzerinnen und -besitzer ihre Wohnungen freiwillig für Einheimische zur Verfügung stellen. Die Politikerin sucht nach Massnahmen, um die Eigentümerinnen und Eigentümer dazu zu bewegen.

Niggli ist von dieser Idee nicht begeistert. Er glaubt, dass sich die Probleme von selbst lösen werden. “Wenn im Oberengadin nur die Hälfte der geplanten Projekte realisiert würde, gäbe es genug Wohnraum für alle”, sagt er.

Die Bevölkerung organisiert sich

Auch die Bevölkerung von Pontresina macht mobil. Anfang des Jahres wurde die Gruppe “PontreVIVA” gegründetExterner Link, um die Diskussion in der Öffentlichkeit zu lancieren.

Ursin Maissen, Direktor des lokalen Tourismusbüros, freut sich über die Resonanz auf die Initiative. Ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner haben auf die partizipative Umfrage geantwortet.

Unausgesprochenes Ziel ist es, einvernehmliche Lösungen zwischen den Zweitwohnungsbewohnenden und den Einheimischen zu finden.

Maissen ist zuversichtlich: “In unserem Dorf sind die Leute bereit, demokratisch zu diskutieren, um Massnahmen zu finden, die allen Seiten gerecht werden.”

Ein Mann
Ursin Maissen ist der Direktor des Tourismusbüros von Pontresina. swissinfo.ch / Vera Leysinger

Saratz Cazin fordert ihrerseits eine Flexibilisierung der bestehenden Regelungen, um die Sache der Einheimischen voranzubringen. Denn neben dem Zweitwohnungsgesetz und dem Raumplanungsgesetz gebe es noch viele andere Rechtsnormen.

Vor Ort führt die Regelungsdichte zu absurden Situationen. So ist beispielsweise im Zentrum von Pontresina ein Gasthof dem Verfall preisgegeben, weil niemand investieren will. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen verbieten es aber, diese Hotelkapazitäten in Wohnungen umzuwandeln. Eine Verschwendung.

Gesetzliche Lockerung erwünscht

“Eine Lockerung der gesetzlichen Rahmenbedingungen wäre wünschenswert, um den lokalen Gegebenheiten besser Rechnung tragen zu können”, sagt Marcus Caduff, Regierungsrat und Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Graubünden.

Auf kantonaler Ebene ist man sich der Wohnungsnot bewusst. Verschiedene Massnahmen sind in Vorbereitung.

Der Politiker der Partei Die Mitte arbeitet an einer Verstärkung der Wohnbauförderung für Menschen mit geringem Einkommen. Neue Subventionen für den Kauf oder die Renovierung von Wohnraum werden geprüft.

Ausserdem wollen die Behörden den gemeinnützigen Wohnungsbau mit zinsgünstigen Darlehen fördern. Es ist ein Silberstreifen am Horizont.

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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