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Der Fall Sperisen in der Schweiz: «Das Erbe des schmutzigen Krieges in Guatemala»

Der ehemalige Chef der guatemaltekischen Nationalpolizei Erwin Sperisen, Mitte, kommt mit seiner Frau Elisabeth Sperisen, rechts, und seinem Anwalt Giorgio Campa, links, zur Eröffnung seines vierten Prozesses in Genf, Schweiz, am Montag, 2. September 2024, am Gericht an. Der neue Prozess gegen Sperisen wird eröffnet, nachdem alle seine Verurteilungen wegen seiner Rolle beim Tod von Gefangenen im guatemaltekischen Pavon-Gefängnis im Jahr 2006 aufgehoben worden sind.
Der ehemalige Chef der guatemaltekischen Nationalpolizei Erwin Sperisen (Mitte) trifft mit seiner Frau und seinem Anwalt beim Gericht in Genf ein, Montag, 2. September 2024. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Der schweizerisch-guatemaltekische Doppelbürger Erwin Sperisen steht in Genf zum vierten Mal vor Gericht, um zu klären, ob er in sieben Morde in einer guatemaltekischen Strafanstalt im Jahr 2006 involviert war. Was steht in diesem beispiellosen Fall in der Schweiz auf dem Spiel und was bedeutet dieser Prozess für Guatemala?

Von der Schweiz aus beteuert Erwin Sperisen (54) weiterhin seine Unschuld und prangert die Befangenheit der Behörden an: Sein Fall in Genf werde von einer linken, voreingenommenen Justiz behandelt, die gegen ihn vorgebrachten Beweise seien manipuliert.

Die vom Angeklagten geführte Anschuldigungsschlacht wurde kürzlich neu entfacht – durch die Ankündigung neuer Klagen, die in Genf gegen den für seinen Fall zuständigen Staatsanwalt Yves Bertossa eingereicht wurden.

Doch diesmal ist es nicht Sperisen, der Strafanzeige erstattet. Sondern drei ehemalige Beamte, die in denselben Fall verwickelt sind, für den Sperisen in der Schweiz vor Gericht steht: Alejandro Giammattei, der damalige Direktor des guatemaltekischen Strafvollzugs, Carlos Vielmann, der ehemalige Innenminister, und Javier Figueroa, der Sperisens rechte Hand in der Nationalen Zivilpolizei (Policía National Civil) war. Alle drei wurden bereit in anderen Prozessen freigesprochen.

Derweil ist in Guatemala der Dokumentarfilm Caso Sperisen: Una vergüenza judicial (Der Fall Sperisen: Eine gerichtliche Schande) angelaufen, in dem der ehemalige Polizeichef und andere Stimmen über das berichten, was sie als Anomalien im Schweizer Justizsystem betrachten.

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Was aber macht diesen Prozess gegen Erwin Sperisen in der Schweiz zu einem derart bedeutenden Fall für Guatemala? Und wie wird er vom zentralamerikanischen Land aus beobachtet?

Darüber haben wir mit dem politischen Analysten Sandino Asturias, Direktor des Zentrums für Guatemalastudien (Centro de Estudios de Guatemala, CEGExterner Link), gesprochen.

SWI swissinfo.ch: Wer war Erwin Sperisen in Guatemala vor 20 Jahren?

Sandino Asturias: Er war ein Feuerwehrmann ohne polizeiliche Erfahrung, der 2004 im Alter von 34 Jahren zum Leiter der guatemaltekischen Nationalen Zivilpolizei PNC ernannt wurde, einer Organisation, der rund 20’000 Männer unterstellt waren.

Sperisen war mit führenden Vertretern der Geschäftswelt und der damaligen Regierung befreundet. Kurz darauf tauchten eine Reihe von Beweisen auf, dass die Polizei sozialen Säuberungen ausführt.

In Guatemala wurden für diese Verbrechen bereits Verurteilungen ausgesprochen. Sperisen wurde mit aussergerichtlichen Hinrichtungen bei der gewaltsamen Räumung eines Bauernhofs (2004), der Verfolgung von drei Häftlingen aus dem Gefängnis El Infiernito (2005), einer Operation im Gefängnis von Pavón, bei der sieben Insassen getötet wurden (2006), und dem Tod von drei salvadorianischen Abgeordneten auf Besuch in Guatemala (2007) in Verbindung gebracht.

Als vier seiner Untergebenen, die des Mordes an diesen Abgeordneten beschuldigt waren, im Gefängnis getötet wurden, zog Sperisen nach Genf, wo sein Vater als Botschafter Guatemalas bei der Welthandelsorganisation WTO tätig war.

Am 15. Juli 2005 leitete Erwin Sperisen, Direktor der Nationalen Zivilpolizei (PNC), Überwachungsmaßnahmen im Süden von Guatemala-Stadt, wo die Bewohner von El Bucaro, El Mezquital und Villalobos begonnen haben, aus diesen Gebieten zu fliehen, nachdem sie von den Maras (Jugendbanden) gewarnt wurden, die damit drohen, ihre Häuser niederzubrennen, wenn sie keine Steuern zahlen. Sperisen rief die Bevölkerung auf, sich zu organisieren, um die Banden zu bekämpfen.
Am 15. Juli 2005 leitete Erwin Sperisen, Überwachungsmassnahmen im Süden von Guatemala-Stadt, wo Konflikte zwischen den Bewohner:innen und organisierten Banden aufgeflammt waren. 2005 Afp

In der Schweiz wurde 2007 eine parlamentarische Interpellation eingereicht, die nach der Rolle der Schweiz bei der Beendigung von Menschenrechtsverletzungen in Guatemala im Zusammenhang mit Sperisen (07.3215Externer Link) fragt. Zwei NGOs stellten einen Antrag auf einen Prozess gegen Sperisen. Was war der Kontext der Strafverfolgung in Guatemala?

Die Regierung Guatemalas und die UNO einigten sich damals darauf – mit finanzieller Unterstützung von mehr als 15 Ländern, darunter auch die Schweiz –, eine Internationale Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (Comisión Internacional contra la Impunidad en Guatemala, CICIG) zu gründen.

Sie sollte der Staatsanwaltschaft dabei helfen, die Existenz illegaler Sicherheitskräfte und deren Verbindungen zu Staatsbeamten zu untersuchen, und mit dem Staat bei der Auflösung dieser Schattenpolizei zusammenarbeiten.

2010 stellte Guatemala einen internationalen Haftbefehl gegen Erwin Sperisen und 18 weitere Beamte aus. Sperisen wurde 2012 in Genf festgenommen. Da er als Schweizer Staatsbürger nicht ausgeliefert werden konnte, wurde er in Genf vor Gericht gestellt. 2014 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt.

Eine Reihe von Beschwerden hat jedoch dazu geführt, dass der Fall bis heute nicht abgeschlossen wurde, während Sperisen bereits neun Jahre hinter Gittern verbracht hat (siehe Kasten).

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Sperisen wird die Beteiligung an Hinrichtungen vorgeworfen, wo ordnen Sie diese Ereignisse historisch ein?

Über drei Jahrzehnte lang hat der guatemaltekische Staat einen Staatsterrorismus betrieben. Er beging Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um Aufständische zum Schweigen zu bringen und die wirtschaftliche Macht in den Händen weniger zu halten.

Nach dem Friedensabkommen von 1996 wurden einige dieser Fälle zaghaft verfolgt. Die Wirtschaftselite und letztlich auch das Verfassungsgericht verhinderten jedoch, dass der Hauptverantwortliche, General Efraín Ríos Montt, wegen Völkermords bestraft wurde.

So fand die Logik der staatlichen Unterdrückung in Friedenszeiten ihre Fortsetzung in Sicherheitskräften, die wie in der Vergangenheit foltern und morden konnten, ohne eine Verfolgung zu fürchten.

Es ist das Erbe des schmutzigen Krieges, dasselbe kriminelle Verhaltensmuster des Staates. So sind innerhalb der Nationalen Zivilpolizei Parallelstrukturen entstanden.

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Erwin Sperisen behauptet, dass die von Guatemala an die Schweiz übergebenen Beweise gegen ihn manipuliert wurden. Sie seien das Ergebnis einer politischen Verfolgung. Was sagen Sie zu diesen Anschuldigungen?

Die Untersuchung, die ihn belastet, wurde von den guatemaltekischen Justizbehörden mit Unterstützung der CICIG durchgeführt, um illegale Hinrichtungen innerhalb des Gefängnissystems zu belegen.

Im Fall der sieben Morde in Pavón gibt es klare Beweise dafür, dass die Häftlinge ausgezogen und hingerichtet und anschliessend wieder angezogen wurden, um die Szene zu manipulieren. Es gab sogar Hinrichtungen von Mitgliedern der Schattenpolizei, die für Sperisen arbeiteten. Beides wurde bereits in Guatemala und in der Schweiz nachgewiesen.

Sperisen kann sich nicht auf politische Verfolgung berufen, da die 70-jährige Herrschaft von Regierungen seiner politischen Linie in Guatemala erst 2024 geendet hat.

Es ist ein Versuch, Zeugen und Richter zu diskreditieren und die öffentliche Meinung in Guatemala zu beeinflussen. Gerade läuft ein Dokumentarfilm im Kino, in dem Sperisen als Opfer der Schweizer Justiz dargestellt wird. Das ist Teil der Verteidigungsstrategie der Wirtschaftselite, die wir in Guatemala gut kennenExterner Link.

Eine Szene aus dem Trailer des Dokumentarfilms "Der Fall Sperisen“.
Eine Szene aus dem Trailer des Dokumentarfilms «Der Fall Sperisen“. Naranja Media

Sie werfen der Elite Geschichtsklitterung vor. Selbst wenn das zutrifft, ist Erwin Sperisen dabei wirklich so wichtig?

Es geht nicht um die Person, sondern um die Methode. Diese Elite, die glaubt, mit göttlicher Erlaubnis zu handeln, schützt sich selbst, um straffrei zu bleiben.

Viele von ihnen haben den Völkermord oder die Gruppen unterstützt, die für die soziale Säuberung geschaffen wurden.

Die Ereignisse wiederholen sich. Als der Diktator Efraín Ríos Montt verurteilt wurde, weil er das Land in ein Schlachtfeld verwandelt hatte, um den Aufstand der Guerilla zu stürzen, behauptete die Elite, dass es in Guatemala keinen Völkermord gegeben habe.

Es geht immer darum, die Unterdrückungsstrategien zu rechtfertigen.

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Der Fall Sperisen fällt in der Schweiz nicht unter das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit, sehen sie dennoch eine internationale juristische Dimension?

Ja. Der Angeklagte selbst hat den Fall mit seiner Verteidigungsstrategie zu einem internationalen Fall gemacht. Wäre er in Guatemala vor Gericht gestellt worden, wäre dies nur ein weiterer Fall – und eine weitere Verurteilung – unter Dutzenden gewesen.

Jetzt steht ein Schweizer Staatsbürger wegen in Guatemala begangener Verbrechen in der Schweiz vor Gericht. Der Prozess mag kein Fall universeller Gerichtsbarkeit sein, es handelt sich dennoch aber um einen Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Vieles an dem Prozess kann in Frage gestellt werden, aber es besteht kein Zweifel daran, dass es in Guatemala aussergerichtliche Hinrichtungen gegeben hat.

Die anderen Beamten, die dem Staatsanwalt Verleumdung vorwerfen, versuchen, ihre eigene Haut zu retten, da ihnen der Fall ebenfalls schaden kann.

Am 27. April 2018 verurteilte das Berufungsgericht Genf den ehemaligen Chef der Nationalen Zivilpolizei Guatemalas und schweizerisch-guatemaltekischen Doppelbürger, Erwin Sperisen, zu 15 Jahren Haft.

Sperisen war in Genf breits vier Jahre zuvor wegen der Ermordung von sieben Gefangenen während der Erstürmung der Haftanstalt Pavón in Guatemala im Jahr 2006 schuldig gesprochen worden, in einem Fall als Haupttäter.

Dieser Entscheid war im Jahre 2015 von der Strafkammer des Kantons Genf bestätigt worden, bevor er im Juni 2017 vom Bundesgericht für nichtig erklärt wurde.

Das Bundesgericht bestätigte zwar, dass die Gefangenen in Pavón willkürlich hingerichtet wurden, wies den Fall aber zur Neubeurteilung ans das Berufungsgericht in Genf zurück.

Dieses senkte in seinem Urteil von 2018 Sperisens Strafe deutlich und verurteilte ihn nur noch wegen Mittäterschaft im Fall Pavón.

Sperisens Anwälte legten dagegen eine Beschwerde, die das Bundesgericht am 14. November 2019 (BGer 6B_865/2018) teilweise guthiess. Zu diesem Urteil wiederum reichte der Angeklagte ein Revisionsgesuch ein, dass den Ausstand der Gerichtspräsidentin des kantonalen Berufungsgerichts verlangte.

Dieses Gesuch wurde vom Bundesgericht zwar abgewiesen (BGer 6F_2/2020). Die Anwälte Sperisens zogen den Entscheid aber an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiter.

Am 13. Juni 2023 kam der EGMR zum Schluss, dass das Recht auf ein unparteiisches Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK im Fall Sperisen tatsächlich verletzt worden sei. Die Gerichtspräsidentin des Berufungsgerichts war demnach in ihrer Antwort auf einen Antrag auf vorläufige Freilassung von Sperisen befangen.

Sämtliche weitere gerügten Verstösse wurden vom EGMR zurückgewiesen (AFFAIRE SPERISEN c. SUISSE, No. 22060/20Externer Link).

Seit dem 2. und voraussichtlich bis am 13. September 2024 findet vor dem Berufungsgericht in Genf der nunmehr vierte Prozess gegen Erwin Sperisen statt.

Quelle:  humanrights.chExterner Link, Bundesgericht und EGMR

Editiert und aus dem Spanischen übertragen von Marc Leutenegger

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