
Leben retten im Schatten der schmelzenden Giganten

Angesichts des Klimawandels, der den Himalaya bedroht, bringt die Schweiz ihr alpines Knowhow im Katastrophenschutz nach Indien. Pierre-Yves Pitteloud, regionaler Berater für Katastrophenvorsorge der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, arbeitet dabei an vorderster Front.
Ende Mai sorgte ein dramatischer Gletscherabbruch im Schweizer Alpendorf Blatten für internationale Schlagzeilen – doch die Geschichte hinter den Kulissen war ebenso beeindruckend: Dank des Schweizer Überwachungssystems für Naturkatastrophen konnte das Dorf rechtzeitig evakuiert werden, wodurch zahlreiche Leben gerettet wurden.
«Wir konnten die Bewegung des Gletschers und die drohende Katastrophe mit bemerkenswerter Genauigkeit vorhersagen», sagt Pierre-Yves Pitteloud. «Aber das war nicht nur Schweizer Genialität, sondern das Ergebnis internationaler Zusammenarbeit.»

Um ihre Gletscher zu überwachen, arbeitet die Schweiz unter anderem mit europäischen, amerikanischen und indischen Wissenschaftsteams zusammen.
Durch den Austausch von Fachwissen und Daten sollen Naturkatastrophen besser vorhersagbar werden, um Leben zu retten.

Mehr
Nach Blatten: Warum all die Bergstürze in der Schweiz?
Pitteloud ist Regionalberater der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) für Katastrophenvorsorge in Indien. Kürzlich teilte er seine Erkenntnisse auf einer von der Schweiz und dem UNO-Büro für Katastrophenvorsorge (UNDRR) gemeinsam ausgerichteten Katastrophenpräventionskonferenz in Genf.
Er sieht eine klare Parallele zwischen den Schweizer Alpen und dem indischen Himalaya – und eine gemeinsame Verantwortung zum Handeln.
Die im Jahr 2022 von UNO-Generalsekretär António Guterres lancierte Initiative «Early Warnings for All»Externer Link zielt darauf ab, sicherzustellen, dass die Weltbevölkerung bis Ende 2027 durch lebensrettende Frühwarnsysteme vor gefährlichen Wetter-, Wasser- oder Klimaereignissen geschützt ist.
Mehrere Forschende, die direkt oder indirekt an der Überwachung des Gletschers oberhalb von Blatten beteiligt sind, nehmen auch an Deza-Projekten im Himalaya teil. Diese Region ist aufgrund des globalen Temperaturanstiegs von schmelzenden Gletschern bedroht.
Eine der Regionen, die von den Projekten abgedeckt werden, ist Sikkim. Dieser nordöstliche indische Bundesstaat grenzt an Nepal, China und Bhutan. Ziel der Zusammenarbeit ist die Überwachung und Bekämpfung von Überschwemmungen durch Gletscherseeausbrüche, die auch als GLOFs bezeichnet werden.
Bei der Katastrophe in Blatten handelte es sich zwar nicht um einen GLOF, die Frühwarnsysteme und Vorbereitungen sind jedoch ähnlich wie bei einem Gletscherabbruch.

Mehr
Warum die Gletscherschmelze uns alle betrifft
In der Schweiz gibt es bereits seit Jahrzehnten gemeinsame Strategien zur Eindämmung von Gletscherseen. Diese umfassen Frühwarnsysteme und Kartierungen.
Wenn Gletscher nachgeben
«Ein GLOF ist wie ein Gebirgs-Tsunami», sagt Pitteloud.
Wenn sich die Gletscher zurückziehen, bilden sich hinter natürlichen Dämmen aus Moränen Schmelzwasserbecken. Geben diese zerbrechlichen Barrieren nach, können ohne Vorwarnung Millionen von Kubikmetern Wasser talwärts fliessen.
So ist es im Oktober 2023 am Gletschersee South Lhonak in Sikkim geschehen.

Untersuchungen ergaben, dass schwere Regenfälle einen Erdrutsch ausgelöst hatten, der fast 15 Millionen Kubikmeter Schutt in den See schüttete. Dadurch entstand eine bis zu 20 Meter hohe Welle.
Eine daraus resultierende Flut erodierte die Moräne, indem sie etwa 50 Millionen Kubikmeter Wasser in das Tal abliess – genug, um 20’000 olympische Schwimmbecken zu füllen.
Die Flut zerstörte fünf Wasserkraftwerke, vertrieb 28’000 Menschen und forderte mindestens 55 Todesopfer.
Laut Pitteloud war die Flut noch Hunderte Kilometer flussabwärts im benachbarten Bangladesch zu spüren.

Mehr
Nepal und der Himalaya: vom Leiden der Gletscher auf dem Dach der Welt
Zusammen mit den indischen Behörden hat die Deza seither ein Überwachungssystem am See installiert. «Wir haben eine Wetterstation eingerichtet und zwei Kameras installiert, welche die Bodenbewegungen überwachen», sagt Pitteloud.
«Wir haben auch eine Sonde im See platziert, die den Wasserstand misst. Plötzliche Veränderungen können ein Zeichen für einen möglichen Ausbruch sein. Wenn das passiert, sendet die Sonde automatisch einen Alarm an die Behörden.»
Einsatz von Satelliten
Am Kooperationsprojekt der Deza in Sikkim sind Universitäten und Forschungsinstitute aus der Schweiz und Indien sowie die lokalen, nationalen und regionalen Behörden beteiligt. Auch private Unternehmen machen mit. Die Deza bildet zudem Forschende in anderen Teilen Indiens aus und teilt dieses Wissen mit dem Team in Sikkim.
Alle zwei Wochen erstellt eine von der Deza beauftragte Schweizer Firma einen Bericht über die instabilen und schwankenden Ufer des Süd-Lhonak-Sees, um das Risiko abzuschätzen.
Da der See auf 5500 Metern über Meer liegt und keine Internetverbindung vorhanden ist, werden Satellitendaten verwendet. Fachleute der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) schulen indische Fachleute im Umgang mit Satellitendaten und Computermodellen zur Ermittlung von Naturgefahrenrisiken.
«Die Radarsatellitenaufklärung kann Bodenverformungen bis auf den Zentimeter genau messen», sagt Pitteloud. «Das ist besonders vielversprechend, wenn man sie mit künstlicher Intelligenz kombiniert. Die Himalaya-Region ist riesig, und es ist nicht möglich, überall Stationen aufzustellen.»
Es handelt sich um internationale Partnerschaften, die europäische, amerikanische und indische Satelliten nutzen. Durch diese Zusammenarbeit erhält die Schweiz laut Pitteloud Zugang zu neuen Technologien und die Universitäten können die Satelliteninstrumente auf ähnliche Phänomene wie den Gletscherabbruch in Blatten anwenden.

«Es gibt keinen technologischen Zauberstab, der lokales Wissen ersetzen kann», sagt Pitteloud. Deshalb ist die Einbindung der Bevölkerung so wichtig. Nur so können die Forschenden die aus den Daten gewonnenen Erkenntnisse richtig interpretieren.
Die Partner der Deza in Nepal befragten beispielsweise ältere Dorfbewohnerinnen und -bewohner zu ihren Erinnerungen an die frühere Topografie und die Eigenschaften der Seen. Das Ziel bestand darin, potenziell gefährdete Gebiete zu identifizieren und diese genauer zu überwachen.
Als sich der GLOF im Jahr 2023 ereignete, erkannten indische Grenzschützer, die in der Nähe der tibetischen Grenze patrouillierten, als Erste die Gefahr und schlugen per Satellitentelefon Alarm. «Das hat Leben gerettet», so Pitteloud.
Sikkim verfügt zwar über ein Überwachungssystem, jedoch noch nicht über ein formelles Frühwarnsystem.
Dies ist der nächste Schritt, an dem die Deza zusammen mit den lokalen Behörden arbeitet: die Erstellung standardisierter Betriebsverfahren (SOPs). Dazu gehört, was im Fall eines Sirenensignals zu tun ist, welche Gebiete zu evakuieren sind und wie Notfallmassnahmen und medizinische Hilfe zu koordinieren sind.
Die Bedeutung der Schadenbegrenzung
In der Schweiz ist die Berücksichtigung von Naturgefahren seit langem Teil der Infrastrukturplanung, besonders in den Alpenregionen.
In Sikkim hingegen wurden die wirtschaftlichen Auswirkungen der Katastrophe zunächst nicht vollständig in die Wiederaufbaupläne einbezogen. Zwar wurden die zerstörten Häuser erfasst, nicht aber die monatelangen Strassensperrungen und die Einnahmeausfälle im Tourismus. Laut Pitteloud ändert sich das jetzt.

Eine frühzeitige Warnung kann Leben retten. Wenn Menschen jedoch auf zerstörten Strassen festsitzen oder keinen Zugang zu Strom und Wasser haben, sind sie immer noch Risiken ausgesetzt.
Traditionell wurden die Strassen in Sikkim entlang von Flüssen gebaut. Dadurch sind sie anfällig für Überschwemmungen, GLOFs und Erdrutsche.
Beim Wiederaufbau von Strassen berücksichtigen die indischen Behörden nun diese Anfälligkeiten, um künftige Überschwemmungsschäden zu minimieren oder zu verhindern.
«Unsere indischen Partner sagen jetzt, dass sich Investitionen in die Katastrophenvorsorge besonders lohnen», so Pitteloud. Das Ziel ist, die Infrastruktur nicht nach jedem Naturereignis wieder neu aufbauen zu müssen.
Editiert von Virginie Mangin/ts, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

Mehr
Alles zum Thema «Wissenschaft»

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch