Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Napoleons Diktat – ein Glücksfall für die Schweiz?

Andreas Gross (l.) und Christoph Mörgeli. Keystone

Die beiden Zürcher Nationalräte Christoph Mörgeli und Andreas Gross nehmen Stellung zur Bedeutung der Mediationsakte von 1803.

An diesem von Napoleon erlassenen Verfassungswerk scheiden sich bis heute die Geister.

“Über die Mediations-Verfassung war niemand richtig froh”, sagt Andreas Gross, Politikwissenschafter und Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP), gegenüber swissinfo. “Die Konstitution war für die Fortschrittlichen zu restaurativ. Und die ehemals Privilegierten konnten ebenfalls nicht zufrieden sein, da sie nicht wie erhofft ihre alten Vorrechte zurück erhielten.”

Die Verfassung von 1803 sei denn auch von eher untergeordneter Bedeutung für die Schweizer Staatswerdung gewesen, ist Gross überzeugt: “Die helvetische Verfassung und die Bundes-Verfassung von 1848 waren weit prägender und epochaler.”

Anders das Urteil von Christoph Mörgeli, Historiker und Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP): “Die Mediations-Verfassung hat einen grossen Stellenwert in der Schweizer Geschichte. Es ging darum, nach der zentralistischen helvetischen Einheits-Verfassung wieder vermehrt auf die gewachsenen Strukturen in der Schweiz Rücksicht zu nehmen.”

Kompromiss zwischen Altem und Neuem?

Die Verfassung von 1803 habe einen “Kompromiss für das damals Machbare” dargestellt, erklärt Mörgeli: “Die Kantone erhielten eine gleichberechtigte Souveränität. Untertanen-Gebiete und Bürger minderen Rechts gab es nicht mehr. Die politische Gleichheit als Postulat der Französischen Revolution blieb erhalten.”

Von einem “Kompromiss” könne nicht die Rede sein, widerspricht Andreas Gross. “Kompromisse können nur Freie schliessen. Die Schweiz lebte damals in französischer Knechtschaft.” Gemäss Gross hätten die Eidgenossen unter anderen Umständen das Potenzial “zu weit mehr” gehabt als lediglich zur “Teilrestaurierung des Ancien Régime”.

Napoleon – Eindringling oder Reformer mit Augenmass?

Tatsächlich wäre es “besser und erfreulicher” gewesen, wenn die Schweiz “die Kraft für die notwendigen Reformen von sich aus aufgebracht hätte”, sagt Christoph Mörgeli. Durch ihre innere Blockierung habe sich die Eidgenossenschaft jedoch zuerst den “unschweizerischen Einheitsstaat” von 1798 und nachher das Diktat Napoleons eingehandelt. “In der Situation von 1803 war Napoleon bis zu einem gewissen Grad ein Glücksfall. Er wies die Schweiz auf den ihr angemesseneren föderalistischen Weg.”

“Für ein ausländisches Diktat kann man nie dankbar sein”, widerspricht Andreas Gross. “Napoleon gebrauchte die Schweiz für französische Interessen. Zehntausende von Schweizern konnten sich wirtschaftlich nicht entwickeln, weil die Zölle und Strassen in fremder Hand lagen. Für sie bedeutete der französische Herrscher Leid und Elend.”

Allerdings ist Gross wie Mörgeli der Auffassung, dass es letztlich die innere Erstarrung war, welche die Eidgenossenschaft 1798 in die französische Fremdbestimmung trieb.

“Die damalige Blindheit für die notwendigen Reformen ist jedoch nicht weiter erstaunlich”, relativiert Gross. “Die Bevölkerung bestand zu einem grossen Teil aus Untertanen. Wenn man nicht frei ist, kann man auch nicht klüger werden. Die Erneuerung setzt die Freiheit voraus.”

Die Lehren der Geschichte?

Heute habe die Schweiz durch ihr Abseitsstehen in Europa wieder ein ähnliches Problem wie die Alte Eidgenossenschaft vor 1798, sagt Andreas Gross. “Viel zu viele hängen heute der Illusion nach, dass man alleine am besten dasteht in der Welt. Tatsächlich läuft die Schweiz so Gefahr, dereinst wie das Ancien Régime zu ‘vermorschen’.”

Die Schweiz von heute ist laut Gross im Unterschied zu damals jedoch durchaus in der Lage, “wichtige Lernprozesse” zu vollziehen und ihre Probleme “auf der Höhe der Zeit” zu lösen: “Die Schweiz ist eines der ‘europäischsten’ Länder Europas. Und das prädestiniert sie, aus sich selbst heraus ihren Weg nach Europa zu finden. Die direkte Demokratie lässt sich angesichts der Globalisierung nur mit der EU und nicht ohne oder gar gegen sie erhalten und stärken.”

Wenig Verständnis für diese historische Parallele zeigt Christoph Mörgeli: Die Schweiz müsse ihre “hausgemachten Probleme selbst lösen”. Die EU habe “bisher kein einziges politisches Problem wirklich gelöst”.

Im übrigen zeige die Mediations-Verfassung, wie wichtig der Föderalismus für die Schweiz sei. “Ein EU-Beitritt hiesse Zentralismus, Fremdbestimmung und das Ende der heutigen direkten Demokratie”, sagt Mörgeli und plädiert dafür, “nicht beizutreten und statt Abbild der anderen ein Vorbild eines direkt-demokratischen Staats mit einer starken Bürgerschaft zu bleiben”.

swissinfo, Felix Münger

Der Zürcher Andreas Gross ist Mitglied des Nationalrats und der Sozialdemokratischen Partei (SP). Der Politologe ist Vertreter der Schweiz im Europarat und leitet das “Atelier pour la Démocratie Directe” in St. Ursanne im Kanton Jura.

Christoph Mörgeli stammt ebenfalls aus Zürich und ist Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Der Historiker ist Dozent und Konservator des Medizinhistorischen Museums der Universität Zürich.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft