«Die Bürger sind nicht einfältig»
Das System der direkten Demokratie hat für die Schweiz manchmal Nachteile. Trotzdem ist es gemäss der Journalistin und Buchautorin Monica Piffaretti ein gutes System und sollte unbedingt erhalten bleiben. Der Wettstreit um Ideen und eine lebendige Debatte sind ihrer Meinung nach für eine direkte Bürgerbeteiligung an Entscheidungsprozessen unverzichtbar.
swissinfo.ch: Laut der Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga handelt es sich bei der Direktdemokratie auch eine entsprechende politische Kultur. Sie waren vor 25 Jahren als Journalistin im Bundeshaus tätig. Hat sich diese politische Kultur seither verändert?
Monica Piffaretti: Die direkte Demokratie und die politische Kultur haben sich nicht so sehr verändert. Aber die Gesellschaft als Ganzes hat sich verändert. Die Schweiz war über Jahrhunderte gewohnt, praktisch alleine zu Recht zu kommen. Nun wird sich die Schweiz immer mehr ihrer wechselseitigen Abhängigkeit mit der restlichen Welt bewusst, insbesondere mit Europa.
Die direkte Demokratie kann da manchmal etwas tückisch und hindernisreich sein. Denn Volksentscheide müssen in Einklang gebracht werden mit den bisherigen Beziehungen zu anderen Ländern. Und da kann es Probleme geben.
swissinfo.ch: Manche nutzen die direkte Demokratie in einer Art und Weise, als ob es diese gegenseitige Abhängigkeit nicht gäbe.
M.P.: Sicherlich. Die populistischen Bewegungen, die in den letzten 20 bis 30 Jahren entstanden sind, nutzen die Instrumente der direkten Demokratie häufig nur mit dem Zweck, ihre eigenen politischen Ziele zu erreichen. Es geht ihnen um die Macht. Und sie kümmern sich nicht darum, welche Folgen ihre Initiativen haben können. Trotzdem bin ich überzeugt von unserem System, in dem die Bürger die Möglichkeit haben, direkt in die Entscheidungen für das Land eingebunden zu werden.
Monica Piffaretti
Monica Piffaretti ist eine Tessiner Journalistin und Autorin. Sie studierte Volks – und Betriebswirtschaft an der Universität Bern. Sie ist verheiratet und Mutter von vier Kindern.
Von 1987 bis 1993 war sie als Bundeshausjournalistin für den Corriere del Ticino, die grösste Tessiner Tageszeitung, tätig. Sie schrieb für die Basler Zeitung die Rubrik «Dagli amici a Sud».
1993, im Alter von nur 30 Jahren, wurde sie zur Chefredaktorin der Tessiner Tageszeitung La Regione ernannt. Sie war die erste und bisher einzige Frau, die eine Tageszeitung im Tessin führte.
Als sie 1999 erstmals Mutter wurde, gab sie ihren Job auf, um sich vermehrt der Familie widmen zu können. Doch dem Schreiben blieb sie treu. Neben journalistischen Arbeiten verfasste sie auch literarische Werke.
2009 erschien unter dem Titel «La Panchina di Samarcanda» eine Sammlung von Erzählungen. Für diesen Band erhielt Piffaretti eine Auszeichnung beim Premio Stresa. Zuletzt erschien 2014 ihr Roman «I giorni del delfino» (Edizioni Salvioni, Bellinzona).
Ich bin ganz einverstanden mit der Aussage der Bundespräsidentin: Die Direktdemokratie ist eine politische Kultur, eine Kultur der Diskussion. Die Debatte ist fundamental. Manchmal knirscht es in diesem System, weil es uns gelegentlich einen abrupten Marschhalt verordnet. Doch dann geht es wieder los. Es gibt keine Perfektion, aber das Schweizer System ist sicherlich ein gutes System, ein Gut, das es zu verteidigen gilt.
swissinfo.ch: Besteht nicht die Gefahr, dass populistische Bewegungen die Instrumente der direkten Demokratie missbrauchen, um immer «dagegen» zu sein: Gegen die Regierung, gegen Europa. Wo bleiben die konstruktiven Elemente?
M.P.: Mir ist diese Freiheit, «gegen etwas zu sein», immer noch lieber als ein System, in dem es diese Freiheit nicht gibt und einfach alles festgelegt ist. Ich bin liberal in meinen Ansichten zur Direktdemokratie. Oder anders gesagt: Für mich ist es ganz wichtig, dass alle ihre Ideen frei äussern und diskutieren können, auch wenn ich selbst anderer Meinung bin. Wenn man versucht, Diskussionen abzuklemmen, kann das explosive Folgen haben. In einer Debatte muss man mit Argumenten kämpfen und die anderen überzeugen. Manchmal sind es die Tatsachen selbst, die zu Argumenten werden.
Im Moment wird beispielsweise darüber gestritten, wie man das Abstimmungsergebnis vom 9. Februar 2014 umsetzt (Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative, welche wieder Kontingente für Ausländerbewilligungen einführen will). Wenn diese Anwendung nicht funktionieren sollte, müssen wir erneut darüber sprechen. Die Schweizer sind häufig pragmatisch. Wenn sie sehen, was die konkreten Folgen eines Entscheids sind, werden sie vielleicht ihre Haltung wieder ändern.
swissinfo.ch: Ist es nicht eine Illusion zu glauben, dass das Volk entscheidet, wenn letztlich die Mehrheit der Volksinitiativen von Regierungsparteien lanciert wird, die damit auch Wahlziele verfolgen?
M.P.: Es ist sicherlich richtig, dass das Mittel von Volksinitiativen und Referenden von politischen Parteien und grossen Organisationen für die eigenen Zwecke eingesetzt wird. Aber nicht immer. Es gibt Volksinitiativen, die von einzelnen Bürgern ausgingen. Die direkte Demokratie erlaubt es, wichtige und manchmal neue Themen aufs politische Parkett zu bringen. In der Demokratie gibt es diesen Wettbewerb der Ideen. Und alles in allem herrscht eine gewisse Transparenz: Die Bürger wissen, worüber sie abstimmen. Sie sind nicht einfältig.
swissinfo.ch: Inwiefern lässt sich aber von demokratischen Entscheidungen sprechen, wenn die Beteiligung an Abstimmungen häufig nicht einmal 50 Prozent erreicht?
M.P.: In diesen Fällen kann man sagen, dass alle, die nicht abstimmen gehen, ihre Stimme an die Stimmenden delegieren. Sie sagen sozusagen: «Mir ist es egal, darum lasse ich diejenigen entscheiden, die darüber entscheiden wollen.» Manchmal verstehen gewisse Stimmbürger auch die Vorlagen nicht. Und sie verzichten daher auf ihre Stimmabgabe. Der Entscheid, nicht abzustimmen, stellt eben auch eine Ausdrucksform dar.
swissinfo.ch: Gerade viele jungen Menschen gehen nicht abstimmen oder wählen. Wie beurteilen Sie diese Enthaltsamkeit?
M.P.: Meiner Meinung nach stellt diese Situation ein grosses Problem dar. Und sie ist ein Spiegel unserer heutigen, sehr individualistischen Gesellschaft. Denn nicht nur das direkte Erleben der Demokratie entfällt häufig, sondern auch der direkte Kontakt mit der gesellschaftlichen Realität.
Viele junge Menschen verbringen etliche Stunden allein vor dem Computer. Sie treten virtuell in Kontakt mit der halben Welt. Aber wie können sie die Probleme vor der eigenen Haustür erkennen und verstehen? Der Verlust dieses direkten Kontakts mit der Realität führt zu einer Entfremdung. Dabei sind Bezugspunkte am eigenen Lebensort nötig.
Wir haben es heute mit einer «Generation von Versuchskaninchen» zu tun: Sehr viele Junge – zu viele – bewegen sich in einer virtuellen Welt, ohne die Risiken zu kennen, denen sie ausgesetzt sind. Es braucht einen Bewusstseinsbildungsprozess, der sich auch über Familie und Erziehung vollzieht. Es sind klarere Regeln nötig, wenn sich junge Menschen zu sehr der virtuellen Welt aussetzen und die richtige Welt, die Welt im Massstab 1:1, vernachlässigen.
Es betrübt mich, dass viele junge Leute sich kaum am politischen Leben beteiligen; dass sie den Abstimmungen und Wahlen fernbleiben. Denn ich denke, dass sie auch neue Visionen einbringen könnten. Ihre Sichtweisen sind eigentlich sehr wichtig für das Land. Es kann durchaus sein, dass wir diesen Mangel an Visionen irgendwann teuer bezahlen werden.
swissinfo.ch: Sie haben mehrere Jugendbücher geschrieben. Könnten Sie sich vorstellen, ein Buch zu schreiben, um junge Leute für das Thema der direkten Demokratie zu sensibilisieren?
M.P.: Das wäre eine grosse Herausforderung. Natürlich dürfte ein solches Buch nicht zu langweilig und formal sein. Man bräuchte viel Fantasie für ein solches Unterfangen. Ich habe schon Erzählungen geschrieben, in denen man sieht, dass junge Menschen, die handeln und konkret etwas tun, auch etwas bewegen und verändern können.
Ich bin immer darum bemüht, eine positive Einstellung zu vermitteln. Ich möchte die Menschen animieren, morgens aufzustehen, ihre Meinung zu äussern und sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen. Und ich werde so weiter machen, weil es mir gefällt, diesen «verrückten Lebenswillen» an meine Leserinnen und Leser weiter zu geben.
swissinfo.ch: Welche Botschaft liegt Ihnen in Bezug auf die direkte Demokratie besonders am Herzen?
M.P.: Ich werde immer betonen, dass die direkte Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Aber nicht nur die direkte Demokratie, sondern die Demokratie an sich. Wir sind vielleicht zu sehr daran gewöhnt. Und daher schätzen wir ihren Wert zu wenig.
Ich würde es mir wünschen, einmal eine Kampagne oder Debatte zu einem solchen Thema zu sehen. Die demokratische Kultur muss auch im alltäglichen Leben verteidigt werden; in den kleinen Dingen des Lebens. Dann aber auch in der Gemeinde, im Kanton und in der Eidgenossenschaft.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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