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Junk Food vor Gericht in den USA – wäre das auch in der Schweiz möglich?

Ein Apfel und ein Donut
Eine oft schwierige Entscheidung. iStock

San Francisco hat zehn multinationale Unternehmen angeklagt, für die Schäden durch Krankheiten wie Fettleibigkeit und Diabetes verantwortlich zu sein. Zwei Expert:innen über die Möglichkeit ähnlicher Klagen in der Schweiz und die Mechanismen, die ultra-verarbeitete Lebensmittel so unwiderstehlich machen.

Die Stadt San Francisco hat zehn multinationale Lebensmittelkonzerne, darunter Nestlé USA und Coca-Cola, verklagt und ihnen vorgeworfen, mit ihren ultra-verarbeiteten Produkten für die Schäden verantwortlich zu sein, die mit der Zunahme von Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs verbunden sind. Ausserdem würden sie irreführende Werbetechniken anwenden.

Eine der Schwierigkeiten bei dieser Art von Verfahren besteht darin, den Kausalzusammenhang zwischen dem Verzehr der fraglichen Produkte und dem Ausbruch der Krankheit nachzuweisen, erklärt die Gesundheitsrechtsexpertin Marie-Hélène Peter-Spiess gegenüber RSI. Denn nicht übertragbare Krankheiten werden fast immer durch mehrere Faktoren verursacht.

Unterschiedliche Rechtsinstrumente in der Schweiz

Wäre ein solcher Fall auch in der Schweiz möglich? Die Forscherin weist darauf hin, dass, wenn auch nicht im gleichen Ausmass, in einigen Fällen juristische Wege denkbar wären, z.B. bei konkreten Verstössen gegen das Lebensmittelrecht, wie bei einer irreführenden Kennzeichnung (d.h. bei Aspekten wie Zutaten-, Herkunfts-, Allergenangaben usw.). Dies würde einen Rückgriff auf das Verbraucherschutzrecht oder sogar das Wettbewerbsrecht bedeuten.

Eine weitere Möglichkeit sei es, sich bei Klagen gegen den Staat auf die Menschenrechte zu berufen, etwa auf das Recht auf Gesundheit. «In diesem Fall würde es darum gehen, sich auf die Schutzpflicht des Staates zu berufen, wie wir es bei den Klimaprozessen gesehen haben.»

In der Schweiz gibt es keinen Präzedenzfall für Klagen wie diejenige in San Francisco, die sich gegen die Lebensmittelindustrie wegen des Verkaufs und der Förderung von ultra-verarbeiteten und ungesunden Produkten richten. Es gibt jedoch Präzedenzfälle, in denen Lebensmittelhersteller wegen betrügerischer Praktiken oder Fragen der Lebensmittelsicherheit belangt wurden, wie Peter-Spiess betont. Im Juni verurteilte die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt Nestlé WatersExterner Link wegen der Verwendung von Kohlefiltern in ihren Wasserproduktionsanlagen in Henniez und der Irreführung der Konsumenten durch die fortgesetzte Vermarktung des Wassers als «natürliches Mineral».

Ein weiteres Beispiel ist das der NGO Public Eye und des International Baby Food Action Network, die beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) eine Klage wegen unlauterer Praktiken gegen Nestlé eingereicht haben. Dabei geht es um den Zusatz von Zucker in Nahrungsmitteln für Säuglinge und Kleinkinder in einigen Ländern.

In der Schweiz gibt es jedoch keine Möglichkeit, Sammelklagen einzureichen. Kürzlich wurde ein Versuch unternommen, dieses System mit einem Vorschlag zur Änderung der Zivilprozessordnung einzuführen. Die eidgenössischen Räte haben das Projekt jedoch in der Herbstsession des Parlaments endgültig verworfen. In einigen Fällen, so Peter-Spiess, gibt es jedoch andere rechtliche Möglichkeiten, die beispielsweise von öffentlichen Einrichtungen, Organisationen oder Verbänden genutzt werden können.

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Risikominderung, die Schweiz setzt auf freiwillige Massnahmen

Um auf die Frage der Gesundheit zurückzukommen: «Bis heute gibt es in der Schweiz praktisch keine spezifische gesetzliche Verpflichtung für Lebensmittelunternehmen, die Risiken von Fettleibigkeit, Diabetes oder anderen Krankheiten zu reduzieren. Dies steht im Gegensatz zu anderen ungesunden Produkten wie Tabak und Alkohol», betont sie.

«Die Schweiz hat sich in diesem Bereich für einen nicht verbindlichen Ansatz entschieden. Die Behörden bevorzugen Selbstregulierungsmechanismen und freiwillige Massnahmen in diesem Sektor.» Ein Beispiel dafür ist die Erklärung von Mailand: eine Vereinbarung zwischen Unternehmen und der Schweizer Regierung zur Reduzierung des Zuckergehalts in bestimmten Lebensmitteln und Getränken.

Es gibt also praktisch keine Verpflichtungen, aber sind die Unternehmen für die Gesundheit der Menschen verantwortlich? «Meiner Meinung nach haben die Lebensmittelunternehmen in erster Linie eine moralische Verantwortung gegenüber den Verbrauchern. Die Übernahme dieser Verantwortung kann sich für sie positiv auswirken, da sie damit ihr Engagement für die öffentliche Gesundheit und die Transparenz und damit für den Verbraucherschutz unter Beweis stellen können. Daher sollten sie meiner Meinung nach dazu angehalten werden, möglichst gesunde und nachhaltige Produkte auf den Markt zu bringen.»

In letzter Zeit wird immer mehr über gesunde Ernährung gesprochen, was auch mit der Sorge um steigende Gesundheitskosten zusammenhängt, und viele Länder haben ihre Wachsamkeit in dieser Hinsicht erhöht. «In diesem Zusammenhang denke ich, dass der Druck für strengere Vorschriften in der Schweiz zunehmen wird». Doch so einfach ist es nicht: «Es gibt viele Hindernisse, und auf Bundesebene sind zahlreiche Versuche, Massnahmen in diesem Bereich zu ergreifen, bisher gescheitert», so Peter-Spiess.

Zunehmender Druck, Lebensmittel gesünder zu machen

«Es gibt auch andere Entwicklungen. So wird zum Beispiel eine mögliche Regulierung der Vermarktung von ungesunden Lebensmitteln für Kinder diskutiert.» Und dann gibt es noch einige Kantone, die eine Vorreiterrolle einnehmen. Ein Beispiel ist das im Kanton Waadt eingereichte Postulat, das die Zweckmässigkeit der Einführung einer Steuer auf Zuckerzusatz untersucht, die zur Finanzierung der Gesundheitsförderung und der Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten durch Sport verwendet werden soll.

Im Fall von San Francisco verteidigte sich der Verband der Verbrauchermarken, der einige der angeklagten Hersteller vertritt, mit dem Hinweis, dass es keine wissenschaftliche Definition für ultraverarbeitete Produkte gibt und dass die Lebensmittelriesen versuchen, gesündere Produkte anzubieten.

Und der Druck kommt nicht nur von ausserhalb der Unternehmen: «Im Jahr 2024 legten einige Nestlé-Aktionäre eine Resolution vor, in der sie eine Verpflichtung zur Erhöhung des Anteils der verkauften gesunden Produkte forderten.» Der Vorschlag wurde jedoch von der Jahreshauptversammlung des Unternehmens abgelehnt.

Der Mensch wird von Natur aus von Junk Food angezogen. Dabei spielen biologische und psychologische Mechanismen eine Rolle, wie Professor Thomas Brunner, Experte für Konsumentenverhalten, erklärt.

Warum ist es so schwierig, Junk Food zu widerstehen?

Der Mensch hat sich im Laufe der Evolution auf die Suche nach kalorienreichen Lebensmitteln spezialisiert, um zu überleben. Diese Vorlieben werden bei der Herstellung von Junk Food ausgenutzt. Diese zucker-, fett- und salzreichen Produkte aktivieren die Belohnungsbahnen im Gehirn, und es wird Dopamin ausgeschüttet.

Dadurch entsteht ein Gefühl der Freude und das Verhalten wird verstärkt, ähnlich wie bei Suchtmitteln. Ausserdem assoziieren wir Junkfood oft mit positiven Erlebnissen wie Partys oder Situationen, in denen wir Trost suchen, was zu starken Gewohnheiten führt. Und nicht zuletzt bedeutet die breite Verfügbarkeit von Junk Food, dass wir häufig damit in Berührung kommen und es leicht zu kaufen ist.

Wie beeinflusst das Marketing dies?

Wiederholte Werbung erhöht die Vertrautheit und die wahrgenommene Attraktivität. Studien zeigen, dass Kinder und Erwachsene, die mit Lebensmittelwerbung konfrontiert werden, unmittelbar danach deutlich mehr Kalorien zu sich nehmen. Ausserdem werden diese Lebensmittel oft als Teil eines unterhaltsamen, geselligen und erstrebenswerten Lebensstils dargestellt und ebenso oft mit Entspannung und Stressabbau in Verbindung gebracht.

Hinzu kommt, dass bekannte Marken emotionale Wärme hervorrufen. Celebrity Endorsements und Influencer Marketing machen sich also unsere Neigung zunutze, vermeintlichen Experten oder Menschen, die wir bewundern, zu folgen. Sie sind sehr wirksame Strategien, weil sie das rationale Denken umgehen und unbewusste automatische Prozesse anzapfen, vor allem wenn die kognitiven Ressourcen gering sind, wie in Situationen von Müdigkeit oder Stress. Dann gibt es Begriffe wie ’natürlich‘ oder ‚Eiweiss‘, die einen gesunden Anschein erwecken, auch wenn es sich um stark verarbeitete Lebensmittel handelt.

Welche Strategien helfen dabei, gesündere Entscheidungen zu treffen?

Eine bewusste Verhaltensänderung erfordert viel Selbstdisziplin und ist oft zum Scheitern verurteilt, wenn man abgelenkt ist. Deshalb sollten wir auch unbewusste Prozesse zu unseren Gunsten nutzen. Es ist wichtig, gesunde Entscheidungen zu erleichtern und ungesunde etwas zu erschweren.

Eine Strategie kann darin bestehen, unser Umfeld neu zu gestalten. Zum Beispiel, indem wir Obst auf dem Tisch bereithalten, anstatt ultra-verarbeitete Snacks. Ausserdem sollten kleine Teller und bereits portionierte Snacks verwendet werden: Das reduziert die Kalorienzufuhr, ohne die Zufriedenheit zu mindern.

Können Nährwertkennzeichnungen und Warnhinweise das Verhalten ändern?

Sie können helfen, aber ihre Wirkung ist begrenzt und man gewöhnt sich an sie. Eine einfachere Strategie besteht darin, möglichst wenig verarbeitete Produkte zu kaufen und sich ausgewogen zu ernähren.

Ist die Verantwortung für die Lebensmittel, die man isst, eher individuell oder systemisch?

Wir alle haben eine Verantwortung. Die Menschen wollen ein selbstbestimmtes Leben führen und müssen deshalb auch Verantwortung übernehmen. Da ungesunde Ernährung aber auch zu Kosten für die Gesellschaft führt, ist auch die Politik in der Verantwortung. Social Marketing für gesunde Ernährung wäre hilfreich. Ebenso wie die Einbeziehung dieser versteckten Kosten in die Lebensmittelpreise, die diese stark verarbeiteten Produkte teurer machen würden als Obst und Gemüse.

Wie sehen Sie die Zukunft: mehr Regulierung oder mehr Lebensmittel-‚Erziehung‘?

Ich glaube, wir sollten alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um unsere Ernährung zu verbessern. Dazu gehören auch Vorschriften. Ernährungserziehung ist wichtig, aber sie allein reicht nicht aus. Wir müssen unser Lebensmittelumfeld gesünder gestalten, damit wir uns gesund ernähren können, ohne uns bewusst anstrengen zu müssen.

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