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Legalisierung bedroht Mythos der “grünen Fee”

"Grüne Fee", Absinth: Muse der Poeten, aber auch Symbol des Alkoholismus Keystone

Wie in der EU dürfte das Absinth-Verbot auch in der Schweiz bald fallen. Im Val-de-Travers, der Heimat der "grünen Fee", sind die Meinungen geteilt.

Die einen sehen in der Aufhebung des Verbots eine Chance für die Wirtschaft, die anderen befürchten das Verschwinden des “echten” Absinth.

“Ich begann fast etwas zufällig mit dem Destillieren”, sagt Paul*, einer der illegalen Absinth-Brenner im Val-de-Travers. Lange sei es her, erinnert er sich. “Ich arbeitete damals in einem Unternehmen der Region, als mir eine für die heimliche Produktion sehr bekannte Dame das Rezept in die Tasche schob.”

Erst 15, 20 Jahre später sei er wieder auf den Fetzen Papier gestossen, so Paul. “Und da sagte ich mir: Wieso eigentlich nicht? Am Anfang war es eine Herausforderung, später wurde es zu einem Hobby. Dazu kam, na ja, der Reiz des Verbotenen, der dazu gehörende Adrenalinschub eben. Mit einem legalisierten Absinth wird das alles einfach nicht mehr sein wie bisher.”

Zurück in die Legalität

Seit fast einem Jahrhundert ist die Absinth-Produktion in der Schweiz verboten. Doch nun dürfte sich das bald ändern.

Im Herbst 2003 sprach sich der Ständerat (Kleine Kammer) für eine Parlamentarische Initiative aus, die eine Aufhebung des Verbots fordert. Der Nationalrat (Grosse Kammer) soll sich in der März-Session mit der Vorlage befassen.

Überzeugt, dass die Aufhebung des Verbots helfen wird, die darbende Wirtschaft der Talschaft anzukurbeln, hat der Regionalverband Association Région Val-de-Travers (ARVT) sich schon vorsorglich um eine kontrollierte Herkunftsbezeichnung (AOC) bemüht.

Julien Spacio, Geschäftsführer des ARVT: “Wir wollen den Absinth wieder legalisieren, um ihn besser zu schützen. Die ‘grüne Fee’ ist unterdessen wieder zu einem Mode-Getränk geworden. Überall produziert man Absinth. Mit der AOC hätte das Val-de-Travers, die Wiege der ‘grünen Fee’, eine Exlusivität anzubieten”, begründet er das Vorgehen.

“Es gäbe dann Produzenten (Anbau der Kräuter und Pflanzen), Brenner und eine Serie von Nebenprodukten wie Gläser, Löffel, Schokolade – um nur einige zu nennen.” Der Tessiner, der vor einigen Jahren in den Jura umzog, kann seinen Enthusiasmus kaum zügeln, kommt ins Schwärmen, während er sein Projekt verteidigt.

Julien Spacio, Verfechter der Legalisierung, spricht über Marketing, Konzepte, wirtschaftliche Entwicklung der Region. Ganz anders Pierre-André Delachaux, einer der führenden Kräfte auf der Seite der Gegner: Seine Schlagworte lauten Magie, Mystik, Authentizität. Der erste steht für Pragmatismus, der andere für Romantik.

Der Reiz des Verbotenen

Das Wahre, Echte am Absinth hat viel mit dem Verbot zu tun”, erklärt Delauchaux, Autor mehrerer Bücher zum Thema Absinth.

“Heute hat man ein Gefühl, als werfe man das Strafgesetz-Buch ins Feuer – jedes Mal, wenn man ein Glas trinkt. Mit der Legalisierung könnte man dann nur noch den Kassenzettel von Coop ins Feuer werfen, nachdem man sich eine Flasche im Supermarkt gekauft hätte”, malt er sein Gespenst an die Wand.

“Es stimmt natürlich: Das Verbot gibt dem Val-de-Travers einen etwas aufsässigen, widerspenstigen Charakter”, räumt Spacio, der ARVT-Geschäftsführer ein. Die Magie des Absinths geht aber auf die Zeit vor dem Verbot zurück. Der Zauber der “grünen Fee”, das war die Muse, von der sich Baudelaire und Rimbaud inspirieren liessen.”

In der Tat war der Absinth im Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Kult- und Modedrink in Künstlerkreisen avanciert. Auf der Liste der illustren Absinth-Trinker finden sich Namen wie Toulouse-Lautrec, Emile Zola, Paul Verlaine, Gauguin, Oscar Wilde, Vincent van Gogh, Pablo Picasso.

Die Widerspenstigen aus dem Val-de-Travers

Der rebellische, widerspenstige Charakter der Talschaft werde nicht verschwinden, gibt sich Julien Spacio überzeugt. Das Produkt werde zwar legalisiert. Viele Produzenten würden aber den Schnaps weiter heimlich brennen.

“Es hat Platz für alle”, bekräftigt seinerseits der illegale Brenner Jean-Paul. Ein kleiner Produzent kommt auf 20’000 bis 30’000 Liter; damit kommen wir den Grossen nicht ins Gehege. Ich glaube, wir werden weitermachen. Aber wir werden kämpfen müssen.”

Im Val-de-Travers rechnet man damit, dass die offizielle Produktion auf zwei, drei professionelle Brennereien entfallen wird. Ein “offizieller” Brenner hat bereits die Produktion von “legalem” Absinth aufgenommen.

Die Zahl der illegalen Absinth-Brennereien im Jurabogen wird zur Zeit auf 60 bis 80 geschätzt. 60 bis 80 “Widerständler”, wie sie Pierre-André Delachaux nennt. “Und genau so viele verschiedene Absinth”, unterstreicht er.

Der echte Geschmack

“Jeder hat seine geheime Rezeptur. Einmal riecht es mehr nach Anis, bei einem andern kommt Salbei zur Geltung, andere sind mit Brennnessel-Saft gefärbt … Jeder hat seine Besonderheit. Wenn die ‘grüne Fee’ mal legalisiert ist, wird alles einen Standard-Geschmack haben.”

Dies will Julien Spacio nicht gelten lassen: “Das Gespenst des eintönigen, aseptischen Produkts ist falsch. Eine AOC zu haben bedeutet nicht, nur noch ein und dasselbe Produkt zu haben. Das sieht man beim Wein doch auch.”

Warten auf das kommende Jahr

Konsumenten und Konsumentinnen können sich legal voraussichtlich ab dem Jahr 2005 ein eigenes Bild machen. Zuerst muss sich nun der Nationalrat mit der Vorlage befassen, danach läuft die Referendumsfrist, und die Verordnungen müssen angepasst werden.

“Wir hoffen, dass wir im Sommer nächsten Jahres die Rückkehr der ‘grünen Fee’ feiern können, während des Absinth-Festes”, blickt Julien Spacio, der ARVT-Geschäftsführer freudig in die Zukunft. Die Gegner der Legalisierung werden vielleicht eine Beerdigungs-Zeremonie organisieren, zum “zweiten Tod der grünen Fee”.

swissinfo, Alexandra Richard
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

* Vornamen fiktiv, da die illegalen Brenner anonym bleiben wollen. Der Redaktion ist die Identität bekannt.

Der Historiker Pierre-André Delachaux ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Absinth. Darunter: “Absinthe, drôles d’images” (eine kurz kommentierte Sammlung an Zeichnungen und Karikaturen; Editions Gilles Hattinger, Hauterives), “Labsinthe, arôme d’apocalypse (Editions Gilles Hattinger, Hauterives), “Letters à un amateur d’absinthe” (Editions Acatos, Lausanne)

Im Val-de-Travers gibt es derzeit schätzungsweise zwischen 60 und 80 heimliche Absinth-Brenner.
Ein Schnapsbrenner produziert seit 2001 legal einen “Extraits d’absinthe” – bei dem Produkt liegt der Thujon-Gehalt aus dem Grossen Wermutkraut (Artemisia absinthium) viel tiefer als beim ursprünglichen Absinth.
Thujon, die Essenz aus dem Grossen Wermutkraut, ist die Spezialität im Kräuterbouquet der “grünen Fee”.
Im Val-de-Travers geht man davon aus, dass nach einer Legalisierung des Absinths zwei, drei grössere Destillerien die Hauptproduktion unter sich aufteilen.
Viele Schwarzbrenner dürften auch in Zukunft ihre “grüne Fee” für ihre Stammkundschaft heimlich weiter produzieren.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts taucht die “grüne Fee” im Val-de-Travers auf, es entstehen erste kleingewerbliche Brennereien.

Das Rezept für den Absinth, so die Überlieferung, soll auf Henriette Henriod zurückgehen. Von ihr sollen Henri-Louis Pernod und Daniel-Henri Dubied das Rezept erworben und die gewerbsmässige Produktion aufgenommen haben.

Danach tritt die “grüne Fee” ihren Siegeszug um die halbe Welt an und verführt alle Bevölkerungsschichten. Der Absinth wird auch zum begehrten Trunk der Dichter, Maler und Intellektuellen. Zur Muse, von der sich Baudelaire, Rimbaud und andere mehr inspirieren und verführen liessen.

Der Absinth, oft viel billiger als andere alkoholische Getränke, wird aber auch zum Symbol des Alkoholismus und des Elends, das dieser hervorrufen kann. Frauen nutzten Absinth auch, um abzutreiben.

Der Ruf nach einem Verbot wird immer lauter. 1910 wird der Absinth in der Schweiz verboten, nachdem das Stimmvolk 1908 einer Initiative zugestimmt hatte.

Frankreich erlässt 1915 ein Verbot, andere europäische Länder folgen.

Während der Absinth in Frankreich verschwindet, wird der Mythos im Val-de-Travers von Schwarzbrennern am Leben erhalten.

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