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Seveso: Auch nach 25 Jahren nicht vorbei

Heute sind noch immer 21 Klagen gegen die ehemalige Roche-Tochter Givaudan hängig. Keystone Archive

Die Umweltkatastrophe in dem norditalienischen Ort Seveso verursachte vor 25 Jahren weltweites Entsetzen und löste eine internationale Diskussion über die Sicherheit chemischer Anlagen aus.

Am 10. Juli 1976 entwich aus der zum Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-La Roche gehörenden Firma Icmesa eine Dioxinwolke aus feinstem Staub. Während des Herstellungs-Prozesses von Trichlorphenol kam es zu einer Überhitzungsreaktion, die die Scheibe eines Sicherheitsventils durch Überdruck bersten liess. Die hochgiftige Substanz gelangte über den Schornstein in die Umwelt und verseuchte hunderte Hektar Land auf Jahre.

Tagelange Vertuschung

Die Giftgaswolke verteilte sich über grössere Gebiete der zwischen Mailand und Como gelegenen Gemeinden Seveso, Meda, Cesano Maderno und Desio. Das erregte zunächst kein grösseres Aufsehen. Doch als einige Tage später Haustiere starben, Pflanzen verdorrten und Menschen an Hautverätzungen und Chlor-Akne litten, alarmierte dies Bewohner und Behörden.

Erst mit tagelanger Verspätung klärte die Leitung der Chemiefabrik den Vorfall auf. Insgesamt wurden 736 Menschen zum Schutz vor dem Gift TCDD (Tetrachlordibenzo-p-dioxin) aus einer 115 Hektar grossen Gefahrenzone evakuiert. Nach dem Verenden von 3’300 Tieren wurden im verseuchten Gebiet bis 1978 insgesamt 77’000 Tiere notgeschlachtet, um das Eindringen von TCDD in die Nahrungskette zu verhindern.

Ärzte rieten Frauen zur Einnahme empfängnisverhütender Mittel, da Dioxine Missbildungen von Föten verursachen können. Einige Schwangere entschlossen sich zum Schwangerschafts-Abbruch.

Internationale Störfall-Regelungen

Schlagartig lösten die Katastrophe und das tagelange Schweigen der Unternehmensleitung eine öffentliche Diskussion über die Sicherheit chemischer Anlagen aus und über Möglichkeiten, derartige Vorfälle künftig zu vermeiden. Die Brisanz des Themas wurde noch deutlicher 1985 durch das Chemieunglück im indischen Bhopal, bei dem mehr als 7’000 Menschen umkamen. Und ein Jahr später folgte die Sandoz-Brandkatastrophe in Basel, die den Rhein bis nach Rotterdam verseuchte.

1994 einigte sich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) nach jahrelangen Beratungen auf ein Abkommen zur Vermeidung von Störfällen, das die Rechte und Pflichten von Betreibern, Beschäftigten und Behörden umriss.

21 Klagen noch hängig

25 Jahre nach dem Dioxinunfall von Meda und Seveso sind immer noch Klagen gegen die ehemalige Roche-Tochter Givaudan hängig. In 21 Fällen (darunter sind 3 Sammelklagen) verlangen die Bewohner des verseuchten Gebietes Schmerzensgeld für die erlittenen psychischen Schäden.

«Die Summe liegt weit unter 20 Millionen Franken», sagt Givaudan-Sprecher Peter Wullschleger. «Für uns sind diese Fälle aber nicht klagbar». Gegen die Gerichts-Entscheide, welche die psychischen Schäden anerkannten, hat die Firma beim Kassationshof in Rom Rekurs eingelegt.

Roche hat der vom Giftunglück betroffenen Bevölkerung insgesamt 300 Mio. Franken Entschädigung bezahlt. Damit wurden unter anderem die Entkontaminierung der verseuchten Zonen, neue Häuser, aber auch die Giftmülldeponie sowie deren Überwachung finanziert.

swissinfo und Agenturen

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