Tourismus und Emigration: Tessin trifft England
Es ist mehr als eine kulinarische Reise in die Vergangenheit: "Foody" zeichnet die Beziehungen zwischen dem Tessin und England nach.
Während das Tessin für reiche Engländer ab 1800 zum begehrten touristischen Ziel wurde, versuchten umgekehrt Tessiner in England ihr Glück. Teilweise mit grossem Erfolg.
«Ticino Foody – historisch-kulinarische Begegnungen zwischen Briten und Tessinern» lautet der Titel des ungewöhnlichen, vom Gastro-Journalisten Alberto Dell’Acqua verfassten Buches.
Angereichert ist der zweisprachige Band (italienisch/englisch) mit etlichen Bildern und Illustrationen, sowie 60 Rezepten, die von Mitgliedern der anglikanischen Kirche in Lugano stammen.
Tatsächlich bot das 2002 begangene 100-jährige Bestehen der anglikanischen Kirche in Lugano, «St. Edward the Confessor», für den Autoren den geeigneten Anlass, die Beziehung zwischen den Tessinern und den Briten genauer unter die Lupe zu nehmen. Diese Kirche verdankt ihre Existenz den englischen Touristen in Lugano.
1856 hatten der Unternehmer Giacomo Ciani und der Hotelier Alessandro Béha das berühmte Hotel du Parc (später Palace) in Lugano eröffnet. Um den englischen Gästen etwas für ihr Seelenheil zu offerieren, ersteigerten sie die Kirche Santa Elisabetta am Seeufer.
Als diese wegen wiederholter Überschwemmungen geschlossen werden musste, errichteten die Luganeser Hoteliers in Zusammenarbeit mit der anglikanischen Gemeinschaft im Jahr 1902 die neue Kirche «St. Edward the Confessor». Sie zählt heute rund 100 Mitglieder.
Aufkommender Tourismus
Es waren vor allem Adlige, die bürgerliche Oberschicht und Künstler aus England, die ab Anfang des 19. Jahrhunderts – schon vor dem Bau der Gotthardbahn – das Tessin entdeckten.
Die wohlhabenden Gäste trugen einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung des Tessins als Tourismuskanton bei, wie Ständerat Dick Marty, Präsident von Schweiz Tourismus, in seinen Anmerkungen unterstreicht.
Der berühmte britische Maler William Turner (1775-1851) besuchte das Tessin mehrmals. Sein Bild von Bellinzona mit den Burgen aus dem Jahr 1848 ist heute in der Tate Gallery von London zu bewundern.
Neben Bellinzona und Lugano begeisterten sich die Engländer auch für den Lago Maggiore. Das 1876 im Ganzjahresbetrieb eröffnete Grand Hotel von Locarno warb neben Luxuseinrichtungen wie Lift und elektrischem Licht – Strom war gerade erst erfunden worden – auch mit der Präsenz einer eigenen «englischen Kapelle» im Haus.
Emigration treibt Tessiner nach England
Aus ganz anderen Gründen pilgerten zur gleichen Zeit Tessiner in Richtung England. Es handelte sich um Emigranten aus mausarmen Tälern wie Leventina und Blenio, die in Grossbritannien auf eine bessere Zukunft hofften. Es waren vor allem Konditoren, Köche, Kellner und Handwerker.
Im Buch werden die Geschichten von einigen Tessinern erzählt, die in England Karriere machten. Zum Beispiel Carlo Gatti aus dem Bleniotal, der 1847 in der englischen Hauptstadt aufkreuzte und sozusagen aus dem Nichts ein gastronomisches Imperium aufbaute.
Sein «Gatti’s Royal Adelaide Gallery» galt damals als grösstes Restaurant der Stadt. Es zählte 40 Köche und 200 Kellner. 1874 gründete die Familie Gatti die immer noch existierende «Unione Ticinese di Londra”, die gerade ihren 130. Geburtstag feierte.
Und ein Nachfahre aus dieser Familie, Sir John Gatti, kam zu grossen Ehren: Er wurde 1920 Bürgermeister von London.
Innovative Köpfe
Andere Tessiner machten ebenfalls Furore, beispielsweise die Familie Torriani mit ihrem «Little Swiss Café Restaurant», das zu einer der ersten Adressen Londons aufstieg. 1871 wurde das Kaffeehaus von der Familie Pagani übernommen. Tessiner führten zudem Spezialitäten wie Marrons Glacés und Gelati («Penny-Icecream») ein.
Auswanderer aus dem Bleniotal waren es auch, die im 19. Jahrhundert die Vorläufer des Kühlschranks nach London brachten, indem sie ausgesägte Eisklötze die Themse flussabwärts transportierten.
Diese historische Tatsache sei schon «äusserst überraschend», merkt der neue Botschafter der Schweiz in Grossbritannien, Alexis P. Lautenberg, in seinem Vorwort an.
Für drei Kellner aus dem Tessin endete der englische Traum hingegen tragisch. Sie liefen auf der Titanic in Southhampton aus, die am 15. April 1912 untergehen sollte.
swissinfo, Gerhard Lob
Ticino-Foody, Text: Alberto Dell’Acqua; Übersetzung: Cindy Korfmann; 60 Rezepte gesammelt von Lulu Cerny; 240 Seiten, 160 Fotos (ital./engl.), Edizioni Fontana, Lugano, 64 Franken
1802 reist der britische Maler William Turner erstmals durchs Tessin
1850 eröffnet Pietro Torriani eine Confiserie in London
1856 eröffnet das Grand Hotel du Parc in Lugano (später Palace)
1874 gründet der Blenieser Carlo Gatti ein Restaurant in London
1874 wird die «Unione Ticinese London» gegründet
1902 wird die anglikanische Kirche in Lugano neu gebaut
1920 wird Sir John Gatti Bürgermeister von London
2002 feiert die anglikanische Kirche ihr 100-jähriges Jubiläum
«Ticino Foody» beleuchtet mit Text und Bildern die gastronomisch-historischen Beziehungen zwischen dem Tessin und den Briten. Es wurde aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der anglikanischen Kirche im Tessin und des 130. Jahrestags der Gründung der «Unione Ticinese» in London herausgegeben.
Während das Tessin für gutbetuchte Engländer ab dem 19. Jahrhundert zu einem begehrten Reiseziel wurde, versuchten umgekehrt Emigranten aus dem Tessin in England ihr Glück. Einige machten als Gastronomen in London Karriere.
Autor des zweisprachigen Bandes (ital./engl.) ist der Tessiner Gastro-Journalist Alberto Dell’Acqua, der auch die Zeitschrift Gastronomie & Tourisme herausgibt. Die 60 Rezepte wurden von Lulu Cerny gesammelt.
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