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Steht 20 Minuten drauf, ist 20 Minuten Lesen drin

20 Minuten: Die Zeitung aus der Box macht aus Pendlern Leserinnen und Leser. Keystone

Hüter des Qualitätsjournalismus verachten sie, Hundertausende lesen sie: Die Gratis- oder Pendlerzeitungen, die vor zehn Jahren auf den Markt kamen. "Newsüberblick + Spass" lautet die Erfolgsformel, wie eine Leserin und ein Leser bestätigen.

Eine Zeitung, die nichts kostet, kann auch nichts wert sein. Wer 1999 so dachte, als 20 Minuten und Metropol an Bahnhöfen und Bus- und Tramstationen auf Pendlerströme warteten, hat sich gründlich geirrt.

Zehn Jahre und zahlreiche Flurbereinigungen auf dem hartumkämpften Markt der Gratisblätter später, künden die Zahlen von einer medialen Revolution: Der Tamedia-Verlag erreicht mit 20 Minuten eine sagenhafte Auflage von 536’000 Exemplaren. Damit ziert das Infotainment-Produkt seit Jahren die Spitze der Schweizer Auflagen-Hitparade.

Blick am Abend, der einzig verbliebene Gratis-Konkurrent aus dem Hause Ringier, liegt mit 225’226 Exemplaren weit abgeschlagen auf Platz zwei. Die Boulevardzeitung Blick folgt als erste traditionelle Bezahlzeitung mit noch 214’555 Exemplaren, was Platz drei bedeutet.

Die klassischen Tageszeitungen Tages-Anzeiger, Berner Zeitung, Bund, Neue Zürcher Zeitung und Basler Zeitung verlieren mit jeder Erhebung weiter an Terrain. Eine Dekade nach dem Auftauchen der neuen Konkurrenz scheinen die “klassischen” Titel keine taugliche publizistische Antwort gefunden zu haben.

Zeitspanne für Pendlerinnen und Pendler

20 Minuten ist praktisch, die Artikel sind kurz. So hat man am Morgen schnell den Überblick und weiss, was los ist”, sagt Carole Ingold, 21-jährige Angestellte beim Bund. Die Bernerin verkörpert den Idealtypus der 20 Minuten-Leserin fast punktgenau. “Die Fahrt mit dem Bus ins Gymnasium dauerte 15 bis 20 Minuten, das hat genau gereicht, um 20 Minuten durchzulesen”, sagt die Berufsmatura-Absolventin.

Für Carole Ingold ist die Gratislektüre aber mehr als die morgendliche Kurzinfo-Dusche. “Dank der Kreuzworträtsel, die ich immer löse, ist 20 Minuten für mich auch ein Zeitvertreib.”

Auch für den 22-jährigen Miro Künzle wurde das Blatt zum Frühprogramm in Sachen Kurzinformation mit Unterhaltungswert: Mit den Gratis-Schlagzeilen startete er jahrelang seinen Schul- und Ausbildungs-Alltag. Im Tessin, wo er heute in der Tourismusbranche arbeitet, vermisst er ein solches Angebot – 20 Minuten erscheint nur in Deutsch und Französisch, nicht aber auf Italienisch.

Pausen-Gespräche

“Die Gratiszeitung ist sehr gut strukturiert und übersichtlich”, sagt Künzle. Die Witze findet er zwar “blöde”, den inhaltlichen Mix aber beurteilt er von “ziemlich unterhaltsam” bis “sehr lustig”.

Er hebt das Horoskop und die vermischten Meldungen hervor. “Die Affenhorde, die auf einer Karibik-Insel einen Barbetreiber terrorisierte. Oder der Mann, der vom Eiffelturm stürzte und mit einem Armbruch davonkam, darüber spricht man dann mit den Kolleginnen und Kollegen”, sagt Miro Künzle.

Der durch 20 Minuten angestossene soziale Faktor spielte auch bei Carole Ingold. Sie berichtet von gemeinsamem Kreuzworträtsel-Lösen und ebenfalls von Gesprächen über Witziges und Schauerliches aus aller Welt. “20 Minuten ist eher Spasslektüre. Sonst würde man am Morgen nur blöd im Zug sitzen”, resümiert Carole Ingold.

Medienkompetenz

Aber allen Unterhaltungs- und Spassfaktoren zum Trotz: Für beide haben 20 Minuten ihre klare Grenzen. Die Inhalte seien zu wenig vertieft, so Ingold. “Im Bund kann ein Artikel über zwei Seiten gehen, in 20 Minuten aber deckt er nur eine kleine Ecke ab.” Sie will sich auch deshalb “nicht völlig” auf die Gratiszeitung verlassen.

“Die Inhalte sind ziemlich oberflächlich und deshalb nichts für die Meinungsbildung”, urteilt Miro Künzle. Seine Meinung macht er sich mit Lektüre der NZZ, der französischen Le Monde oder der italienischen La Repubblica.

Erstaunlich, dass die “Hub-Funktion” der Gratiszeitungen zu Inhalten im Internet weder für Ingold noch für Künzle eine grosse Rolle spielten. Sie hätten kaum je auf 20 Minuten online geklickt, sei es für einen Wettbewerb, zum Anschauen eines Videos oder um nach zusätzlichen Informationen zu suchen.

Die Leser irren sich nicht

Zum Phänomen des 20-Minuten-Erfolgs befragt, spricht Medienexperte Ueli Custer Klartext. “Die Gratiszeitungen sind absolut eine Bereicherung, wie jede neue Zeitung.” Entscheidend sei die Frage, ob es Menschen gebe, die damit etwas anfangen könnten.

Custer hat gleich die pragmatische Antwort parat: “Das Produkt entspricht einem offensichtlichen Bedürfnis, der Erfolg auf dem Markt spricht für sich”, sagt der Medienexperte.

Den Kanon von Kritikern, die in den Gratiszeitungen die Totengräber des Journalismus sehen, mag der Vertreter der Interessengemeinschaft elektronische Medien nicht hören. “Es ist nicht Aufgabe der Journalisten, die Menschen zu erziehen oder ihnen klarzumachen, wofür diese sich zu interessieren haben”, sagt Custer.

“Tatsache ist, dass junge Menschen dank 20 Minuten eine Zeitung in die Hände nehmen”. Das sei früher viel weniger der Fall gewesen.

Renat Künzi, swissinfo.ch

Zehn Jahre nach den ersten Gratisblättern gibt es noch drei: 20 Minuten, 20 minutes und Blick am Abend.

Ende 1999: 20 Minuten und Metropol erscheinen als erste Gratis-Tageszeitungen.

2002: Metropol gibt auf.

2003: 20 Minuten kommt zu Tamedia.

Herbst 2005: Edipresse lanciert die Gratiszeitung le matin bleu.

März 2006: Tamedia antwortet mit dem französischsprachige Konkurrenzblatt 20 minutes.

Mai/Herbst 2006: Ringier startet die Gratis-Abendzeitungen heute.

September/Dezember 2007: Ein Privatmann lanciert .ch. Tamedia, Espace Media sowie Basler Zeitung starten die Pendlerzeitung News.

Juni 2008: Ringier ersetzt heute durch Blick am Abend.

Mai/September 2009: Einstellung von .ch,
le matin bleu verschwindet.

Dezember 2009: news wird eingestellt.

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