Alarmruf der Wissenschaft: Die Klima-Kipppunkte rücken näher
Korallenriffe kollabieren, der Amazonas trocknet aus, Meeresströmungen schwächeln. Ein neuer Bericht zeigt: Die Klimakrise erreicht kritische Schwellen. Doch es gibt auch Hoffnung – durch positive Wendepunkte.
Was sind Kipppunkte?
Der Begriff «Kipppunkt» hat in der Klimadebatte in den letzten zwei Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Der Weltklimarat (IPCC) definiertExterner Link ihn als eine kritische Schwelle, deren Überschreiten abrupte und möglicherweise unumkehrbare Veränderungen im Klimasystem auslöst – mit weitreichenden Folgen Externer Linkfür Mensch und Umwelt.
Wissenschaftler:innen warnen seit Langem: Wird die globale Erwärmung um mehr als 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau überschritten, steigt das Risiko, gleich mehrere KipppunkteExterner Link zu erreichen. Derzeit liegt der weltweite Temperaturanstieg im Fünfjahresmittel bereits bei etwa 1,3 bis 1,4 °C.Externer Link
Die verletzlichsten Zonen der Erde
Im Fokus stehen neun globale Kippelemente und mehrere regionale, darunter das grönländische und antarktische Eisschild, der Amazonas-Regenwald, Permafrostböden, Gebirgsgletscher – etwa in der Schweiz, sowie die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC), ein zentrales System von Meeresströmungen, das das Wetter weltweit beeinflusst.
Um Frühwarnzeichen besser zu erkennen, setzen Forschende auf Satellitentechnologie, verbesserte Klimamodelle und direkte Beobachtungen.
Korallenriffe: Erste Schwelle überschritten
Korallenriffe beherbergen rund ein Drittel der bekannten marinen BiodiversitätExterner Link und sichern Nahrung und Einkommen für fast eine Milliarde Menschen. Doch die letzten zwei Jahre – die wärmsten seit Beginn der AufzeichnungenExterner Link – haben 84 % der weltweiten Riffe durch marine Hitzewellen Externer Linkgeschädigt. Forschende gehen davon aus, dass tropische Korallenriffe ihren Kipppunkt bereits überschritten haben.
Der zweite «Global Tipping Points»-BerichtExterner Link, koordiniert von der Universität Exeter und dem WWF, kommt zum Schluss: Korallenriffe beginnen bereits bei 1,2 °C zu kollabieren. Selbst wenn die Erwärmung bei 1,5 °C gestoppt würde, liegt die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs bei über 99 %.
Thomas Fröhlicher, Klimaforscher an der Universität Bern, bezeichnet diese Erkenntnis als «ernst, aber nicht überraschend»:
«Wir wissen seit Langem, dass die kritische Temperatur für viele Korallenriffe zwischen 1,2 und 1,5 °C liegt. Der Bericht bestätigt nun, dass diese Grenze bereits überschritten wurde.»
Einige Expert*innen äussern jedoch Zweifel: Zwar seien die Riffe stark geschädigt, doch es gebe Hinweise, dass sie auch bei höheren Temperaturen überleben könnten.
Amazonas-Regenwald am Limit
Auch der Amazonas-Regenwald steht laut Bericht näher am Kipppunkt als bisher angenommen. Die Region leidet unter der Klimakrise und fortschreitender Abholzung – und erlebte 2023/24 eine historische Dürre. Bereits bei 1,5 bis 2 °C Erwärmung könnte ein grossflächiges Absterben von Pflanzen- und Tierarten einsetzen.
Dürre und Waldbrände nehmen zu, töten Bäume und setzen CO2 frei – ein Teufelskreis, der den Wald weiter austrocknet. Ein Kollaps hätte gravierende Folgen: Er würde den Regen in ganz Südamerika beeinflussen und globale Klimaschwankungen auslösen.
Ozeanzirkulation in Gefahr
Die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC) – eine Art Förderband für Ozeanwasser – stabilisiert das Klima in Europa. Laut Bericht droht ihr Kollaps bei einer Erwärmung über 2 °C. Die Folgen wären dramatisch: eisige Winter in Nordwesteuropa, gestörte Monsune in Afrika und Asien, sinkende Ernteerträge.
Zahlreiche Studien warnen inzwischen vor einer Abschwächung oder gar einem Zusammenbruch des Systems. Doch nicht alle Forschenden teilen diese Einschätzung. Eine Schweizer-US-amerikanische Studie kam dieses Jahr zum Schluss, dass die Strömung in den letzten 60 Jahren stabil geblieben sei.
Eisschilde: Der Meeresspiegel steigt
Besonders im Blick: die Eisschilde in Grönland und der Westantarktis. Sie schmelzen zunehmend und lassen den Meeresspiegel steigen. Der Bericht warnt: Beide Systeme stehen «gefährlich nahe» am Kipppunkt.
Claudia R. Binder, Umweltforscherin an der EPFL und Mitautorin des Berichts, sagt: «Wir sind überzeugt, dass die grönländischen und westantarktischen Eiskappen kurz vor einem unumkehrbaren Kollaps stehen.»
Auch der Amazonas sei gefährdet, wenn die Erwärmung bei 1,5 °C oder darüber bleibe. Fröhlicher von der Uni Bern bestätigt die wachsenden Risiken, mahnt aber zur Vorsicht: «Es gibt grosse Unsicherheiten darüber, bei welcher Erwärmung genau diese Kipppunkte erreicht werden. Entscheidend ist, dass wir die Überwachung und das Verständnis dieser Systeme weiter verbessern.»
Hoffnung durch positive Kipppunkte
Der Bericht enthält nicht nur Warnungen, sondern auch Hoffnung: sogenannte «positive Kipppunkte». Gemeint sind grosse, selbstverstärkende gesellschaftliche oder technologische Veränderungen, die den Wandel zu einer klimafreundlichen Welt beschleunigen.
Tim Lenton, Klimaforscher in Exeter und Hauptautor des Berichts, nennt Beispiele: Durchbrüche bei Solar- und Windenergie, Elektroautos, Batteriespeicherung und Wärmepumpen.
Länder wie Norwegen und China treiben die E-Mobilität voran, Dänemark ist führend bei Offshore-Wind, Grossbritannien hat Kohlekraftwerke abgeschaltet. 2025 erzeugten erneuerbare Energien erstmals mehr Strom als Kohle, so das Energieinstitut Ember.
COP30: Wendepunkt oder vertane Chance?
Um negative Kettenreaktionen zu verhindern und positive Kipppunkte zu fördern, braucht es entschlossenes Handeln – insbesondere bei der kommenden UN-Klimakonferenz COP30 in Belém, Brasilien.ss
Die Autorinnen des Berichts arbeiten mit den COP30-Organisatorinnen zusammen, um Kipppunkte und Lösungsansätze prominent auf die Agenda zu bringen. Ziel ist ein «Action Agenda», das nationale Klimapläne und freiwillige Initiativen aus verschiedenen Sektoren – von Landwirtschaft bis Energie – bündelt und beschleunigt.
Doch der Wandel hängt nicht nur von Regierungen ab, betont Claudia Binder: «Das ist ein entscheidender Punkt: Die Politik kann nicht alles leisten. Wirklicher Wandel entsteht nur, wenn wir alle mitziehen – als Konsument:innen, Unternehmen, Forschende und Bürger:innen.»
Editiert von Gabe Bullard/vdv: Übertragung aus dem Englischen mithilfe von KI: Balz Rigendinger
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