
Medikamentenpreise: Ein Konflikt mit Roche deckt Schwachstellen im Schweizer System auf

Das neue Fast-Track-Verfahren für Medikamente sollte Patient:innen schnelleren Zugang zu innovativen Therapien ermöglichen. Doch der Streit um das Krebsmedikament Lunsumio droht zum gefährlichen Präzedenzfall für künftige Preisverhandlungen zu werden.
Mit einer risikoreichen Strategie hat der Pharmakonzern Roche die Macht der Schweizer Arzneimittelpreisbehörde auf die Probe gestellt, was für Aufruhr im Schweizer Gesundheitswesen sorgte.
Nachdem die Verhandlungen mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) über den Preis gescheitert waren, hat das Basler Unternehmen am 1. Juli sein neues Krebsmedikament Mosunetuzumab, das unter dem Namen Lunsumio vertrieben wird, stillschweigend aus dem Schweizer Markt zurückgezogen.
In der Folge strich das BAG Lunsumio von der Erstattungsliste der obligatorischen Krankenversicherung (der sogenannten Spezialitätenliste) und verwehrt den Patient:innen damit den Zugang zur Behandlung. Roche hätte, wie schon in der Vergangenheit, die Erstattung in Einzelfällen zulassen können. Der Konzern entschied sich jedoch für einen weitaus drastischeren Schritt und zog sich vollständig zurück.

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Roche liefert Lunsumio allerdings weiterhin kostenlos an bestehende Patient:innen. Ein von einem gemeinnützigen Ärzteverband unterstütztes PatientenzugangsprogrammExterner Link gewährleistet die Kontinuität der Versorgung für bereits laufende Behandlungen. Für neue Patient:innen ist das Medikament jedoch nicht mehr erhältlich, es sei denn, sie importieren es selbst und bezahlen es aus eigener Tasche. In Deutschland kostet eine Dosis 6514 Euro, das sind 6070 Schweizer Franken. Die Kosten für eine vollständige Behandlung liegen zwischen 60’000 und 90’000 Euro.
Ärzt:innen und Patientengruppen zeigten sich schockiert über die Entscheidung von Roche, die Mitte Juli in den Schweizer MedienExterner Link für Schlagzeilen sorgte. Das wichtigste Lymphom-Patientennetzwerk des Landes übte öffentlich Kritik am Scheitern der Verhandlungen.
«Die Entscheidung von Roche hat schwerwiegende kurz- und langfristige Auswirkungen für Lymphompatienten», erklärt Rosmarie Pfau, Präsidentin des Netzwerks lymphome.ch, in einer E-Mail an Swissinfo. Dies sei «ein weiterer Rückschlag für die Arzneimittelentwicklung» und werde sicherlich «ein klares Signal an andere Pharmaunternehmen senden, die neue Krebstherapien in der Schweiz einführen wollen».
In der Schweiz ist der Abschluss einer Krankenversicherung bei privaten Versicherungsunternehmen obligatorisch, und diese dürfen Antragsteller:innen nicht ablehnen. Für einkommensschwache Haushalte werden staatliche Zuschüsse gewährt, um sicherzustellen, dass alle Menschen versichert sind. Die Regierung reguliert Prämien und Preise, aber im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern wird das Schweizer System nicht durch Steuern oder Sozialabgaben finanziert.
Der Entscheid von Roche, sich zurückzuziehen, verschärft weltweit den Konflikt zwischen Pharmaunternehmen und Gesundheitsbehörden um den Wert neuer innovativer Medikamente – insbesondere solcher, die auf einen Nischenmarkt abzielen.
Während Pharmaunternehmen auf eine schnelle Markteinführung und hohe Preise drängen, wollen die Regulierungsbehörden sicherstellen, dass die Preise dem tatsächlichen therapeutischen Wert eines neuen Medikaments entsprechen. Denn ihre Budgets können mit den steigenden Gesundheitskosten kaum Schritt halten.
Lunsumio, das zur Behandlung einer seltenen, lebensbedrohlichen Blutkrebserkrankung des Lymphsystems eingesetzt wird, war das Pilotprojekt für ein neues Verfahren, das den Zugang zu innovativen Medikamenten beschleunigen soll. Einige Expert:innen warnen, dass der Schritt von Roche künftige Verhandlungen untergraben und andere Arzneimittelhersteller dazu ermutigen könnte, ihrem Beispiel zu folgen. Eine Taktik, welche die Preisbehörden in Geiselhaft nehmen könnte.
Früherer Erfolg
Lunsumio wurde einst als Erfolgsgeschichte gefeiert. 2022 erhielt es erstmals die Zulassung in den USA. Bislang wurde es auf der Grundlage einer globalen Phase-II-Studie mit 90 Patient:innen in mehr als 60 Ländern zugelassenExterner Link. Rund 80% der behandelten Patient:innen sprachen auf die Therapie an, bei 60% war die Krankheit nicht mehr nachweisbar.
Im Februar 2023 erteilte die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic Lunsumio eine vorläufige Zulassung für Patient:innen, die auf zwei vorherige Therapien nicht angesprochen hatten. Von den etwa 500 Menschen, die in der Schweiz jährlich mit follikulärem Lymphom diagnostiziert werden, schätzten die Gesundheitsbehörden, dass nur 28 Personen für das Medikament infrage kommen würden.

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Lunsumio war auch insofern bahnbrechend, als es das erste Medikament im Rahmen des neuen «Early-Access»-Verfahrens war, das eine Erstattung durch die Versicherer unmittelbar nach der Zulassung durch Swissmedic ermöglicht.
Das Verfahren zielte darauf ab, die oft sechs bis zwölf Monate dauernde Verzögerung zwischen der Zulassung und der Versicherungsdeckung zu verkürzen und so den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten für Patient:innen mit seltenen Krankheiten und wenigen oder keinen anderen Behandlungsmöglichkeiten zu beschleunigen.
Roche und das BAG einigten sich auf ein vorläufiges Preismodell, bei dem der Konzern die Kosten für die ersten Dosen übernahm, bis die Ärztinnen und Ärzte die Wirksamkeit des Medikaments bestätigten.
Die nachfolgenden Dosen sollten von der Versicherung übernommen werden. Der Preis wurde auf 7470 Franken (9495 US-Dollar) pro 30-ml-Dosis festgelegt. In der Regel erhalten Patient:innen 8 bis 17 Dosen, wie aus einer archivierten Kopie der Spezialitätenliste hervorgeht.
Die Gesamtkosten liegen somit zwischen 60’000 bis zu über 120’000 Franken.
Die Preisvereinbarung dient laut der Aufsichtsbehörde dazu, «vielversprechende Medikamente mit noch ungewissen Daten» zu vergüten. Jede Änderung der Vereinbarung war von der vollständigen Genehmigung durch Swissmedic abhängig, welche wiederum die Ergebnisse einer Phase-III-Studie voraussetzte.
Als die vorläufige Zulassung im Februar 2025 auslief, war die Studie jedoch noch nicht abgeschlossen und Roche konnte die erforderlichen Daten für die vollständige Zulassung nicht liefern. Die Ergebnisse werden für Anfang 2026 erwartet.
Dennoch wollte Roche die Vorauszahlungen laut BAG einstellen und zur vollständigen Erstattung übergehen, da Onkolog:innen, die Patient:innen mit dem Medikament behandelten, positive Ergebnisse vermeldeten. Das Unternehmen äussert sich nicht zum Preis, teilt Swissinfo jedoch mit, dass es dem BAG «erhebliche Rabatte» angeboten habe.
Für Roche steht viel auf dem Spiel. Lunsumio wird voraussichtlich eines der weltweit meistverkauften Medikamente des Unternehmens mit einem Spitzenumsatz von 1 bis 2 Milliarden US-Dollar pro Jahr werden. Im Jahr 2024, zwei Jahre nach der Markteinführung in den USA, erzielte das Medikament einen Umsatz von 71 Millionen US-Dollar, was einer Steigerung von 25% gegenüber 2023 entspricht.
Zwar bieten viele europäische Länder Lunsumio über ihre nationalen Gesundheitsdienste an, doch sowohl die britischeExterner Link als auch die französische Gesundheitsbehörde lehnten eine Empfehlung ab. Beide Länder hielten die Vorteile gegenüber bestehenden Behandlungen für unzureichend belegt. SchwedenExterner Link erklärte sich trotz fehlender Studiendaten bereit, das Medikament zu bezahlen, da es zu dem mit Roche vereinbarten vertraulichen Rabattpreis kosteneffizient sei.

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Die Schweizer Gesundheitsbehörden argumentierten hingegen, dass eine Ausnahme für Roche den Forderungen anderer Arzneimittelhersteller Tür und Tor öffnen würde. Ein Sprecher des BAG erklärt gegenüber Swissinfo, eine Beendigung des Preismodells «hätte zu einer Ungleichbehandlung gegenüber anderen Pharmaunternehmen mit Arzneimitteln geführt, die für einen begrenzten Zeitraum zugelassen sind». Die Erfahrungen einzelner Ärztinnen und Ärzte können wertvolle Informationen liefern, aber «sie sind kein Ersatz für evidenzbasierte klinische Studien».
Das BAG sagt, es hoffe weiterhin auf eine Einigung mit Roche über die Kostenerstattung. In der Zwischenzeit verlängerte Swissmedic die befristete Zulassung von Lunsumio bis 2027.
Forderungen nach Veränderung
Es ist unklar, was Roche zu dieser Entscheidung bewogen hat, insbesondere angesichts des begrenzten Markts im eigenen Land. Einige Expert:innen vermuten, dass das Unternehmen den Behörden in der Schweiz signalisieren wollte, dass sie die Preise nicht weiter drücken können. Der wachsende Druck von US-Präsident Donald Trump auf die europäischen Länder, die Arzneimittelpreise anzuheben, könnte das Unternehmen ebenfalls ermutigt haben.
«Vor zwei Jahrzehnten zahlte die Schweiz ähnliche oder sogar höhere Preise als andere Länder», sagt Karin Steinbach, Expertin für Arzneimittelpreise bei der Genfer Beratungsfirma Lattice Point Consulting. «Dadurch war sie einer der ersten Orte, an denen Arzneimittelhersteller neue Therapien auf den Markt brachten.»
Die Preise werden vom BAG in erster Linie auf der Grundlage von zwei Kriterien festgelegt: einem internen Vergleich mit bestehenden Therapien, die derzeit in der Schweiz zur Behandlung der Krankheit eingesetzt werden, und einem externen Vergleich mit den Durchschnittspreisen in neun anderen europäischen Ländern. Für besonders innovative Arzneimittel wird ein Aufschlag von 20% auf den internen Vergleich erhoben.
Die Toleranz gegenüber hohen Preisen hat sich jedoch angesichts der zunehmenden Forderungen nach einer Eindämmung der explodierenden Gesundheitsausgaben verändert. Obwohl die Arzneimittelpreise nicht der einzige Faktor für steigende Kosten sind, liegen die Kosten für neue MedikamenteExterner Link laut dem BAG im Durchschnitt um 50% höher als vor zehn Jahren. Studien zeigen auch, dass hohe Preise nicht immer mit einer höheren Wirksamkeit einhergehen.
«Wir müssen bei der beschleunigten Zulassung vorsichtiger sein», sagte Kerstin Noëlle Vokinger, Expertin für Arzneimittel und Recht an der Universität Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich, in einem Interview im vergangenen Jahr. «Es ist für die Unternehmen profitabel, Medikamente früher auf den Markt zu bringen, aber der Mangel an Evidenz sollte sich auch im Preis wiederspiegeln.»
Hier können Sie das ganze Interview mit der Expertin lesen:

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Mit nur neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist die Schweiz für Pharmaunternehmen weniger attraktiv als die USA und Deutschland, was die Gesundheitsbehörden bei Preisverhandlungen in eine schwierige Lage bringt.
«Die grösseren Märkte sind attraktiver, weil es dort mehr Patienten gibt”, sagt Thomas Hofmarcher, Gesundheitsökonom am Schwedischen Institut für Gesundheitsökonomie. «Als kleiner Markt riskiert man, dass Produkte vom Markt genommen werden, weil das Unternehmen glaubt, sich den Verlust leisten zu können. Möglicherweise wollen sie dem Kostenträger signalisieren, dass sie unsere Preise nicht einfach ständig senken können.»
Das 2024 gesetzlich verankerte Early-Access-VerfahrenExterner Link war ein Versuch, alle Seiten zufriedenzustellen, aber das Lunsumio-Pilotprojekt war denselben Spannungen zwischen Arzneimittelherstellern und Gesundheitsbehörden ausgesetzt, die seit jeher die Preisverhandlungen belasten.
«Diese Situation ist leider symptomatisch für grundlegende Probleme bei der Preisgestaltung in der Schweiz, vor denen wir schon seit Langem warnen», sagt ein Sprecher von Roche. «Wir und alle anderen Healthcare-Unternehmen werden auch in Zukunft nur dann neue und innovative Medikamente zur Rettung und Behandlung von Menschen anbieten können, wenn unsere aktuellen Medikamente im Verhältnis zu den zuvor getätigten Investitionen erstattet werden.»
Editiert von Nerys Avery/vm/ac; Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

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