The Swiss voice in the world since 1935

Afghanistan: US-Militärangriffe haben begonnen

In seiner Rede an die Nation betonte US-Präsident George W. Bush erneut, es werde ein langer Kampf werden - nicht nur gegen die Taliban. Keystone

Knapp vier Wochen nach den Terroranschlägen in New York und Washington haben die USA Ziele in Afghanistan angegriffen. US-Präsident George W. Bush sagte in einer Fernseh-Ansprache, die Taliban bezahlten den Preis dafür, nicht auf die Forderungen der USA eingegangen zu sein. Ziel der Aktion sei es, das herrschende Regime zu vertreiben und die Schuldigen der Anschläge zur Verantwortung zu ziehen. Trotz der Angriffe auf Afghanistan wollen die Taliban den Moslem-Extremisten Osama Bin Laden nicht an die Vereinigten Staaten ausliefern. Das meldete die Taliban-nahe Nachrichtenagentur AIP am Sonntagabend in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad.

In der afghanischen Hauptstadt Kabul schlugen mehrere Raketen ein, und in der Nähe waren vier grosse Explosionen zu hören. Über der Stadt hing eine riesige Rauchwolke.

Angriffe auf Kabul, Kandahar, Dschalalabad und Herat

Mindestens vier Bomben seien über Kabul abgeworfen worden, sagte ein Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters. Gemäss einem Journalist des arabischen TV-Senders «Al-Dschasira» fiel in der ganzen Stadt vorübergehend der Strom aus. Allerdings sei alles ruhig, von Panik sei nichts zu spüren. Es war zunächst nicht bekannt, ob die Explosion Stromverteiler beschädigt hatte oder ob die regierenden Taliban den Strom abschalteten, um eine Verdunklung zu erreichen.

In der Stadt Kandahar richteten sich die Luftangriffe nach afghanischen Informationen in einer ersten Welle gegen den Flughafen. Dabei wurden dem Vernehmen nach Radareinrichtungen und der Kontrollturm zerstört. Laut den Taliban haben die Angriffe die Rollbahn des Flughafens nicht beschädigt. Bombardiert wurden auch Wohnanlagen, die für Anhänger des islamischen Extremisten Osama Bin Laden gebaut wurden.

Eine zweite Angriffswelle auf Kandahar richtete sich nach Informationen aus Afghanistan gegen die Zentrale der Taliban-Miliz im Stadtzentrum. Über den 15 Kilometer ausserhalb der Stadt gelegenen Gebäuden von Taliban-Führer Mullah Mohammed Omar stieg Rauch auf.

Die ostafghanische Stadt Dschalalabad sei ebenfalls angegriffen worden, meldete CNN. Einwohner von Dschalalabad berichteten von drei schweren Explosionen. Eine der Detonationen ereignete sich offenbar in Farmada, einem 20 Kilometer südlich von Dschalalabad gelegenen Ausbildungslager Bin Ladens.

Nach einem Bericht des US-Senders CNN wurde auch der Flughafen der westafghanischen Stadt Herat getroffen. Dabei sei es zu riesigen Explosionen gekommen, hiess es. Der Flughafen nahe der Grenze zum Iran gilt als einer der besten des Landes.

Über mögliche Tote oder Verletzte wurde zunächst nichts bekannt. Auch am frühen Morgen Ortszeit gingen die Angriffe an verschiedenen Orten, vor allem in Kabul, weiter.

Bush: Gegen Taliban, nicht gegen Afghanistan

Präsident Bush sagte in einer live im Fernsehen übertragenen Rede: «Wir haben militärische Attacken gegen Terroristen-Ausbildungslager und das Militär in Afghanistan gestartet. Grossbritannien als befreundete Nation steht an unserer Seite.»

Bush rief in Erinnerung, dass er der Taliban-Führung vor Wochen mehrere Forderungen gestellt habe. Keine sei erfüllt worden. Nun müsse das Regime die Konsequenzen tragen. Jedes Land habe eine Entscheidung zu treffen, ob es dem Terrorismus eine Absage erteile oder nicht.

Erneut bekräftigte Bush, der Angriff richte sich nicht gegen die afghanische Bevölkerung. Deshalb habe die USA auch Lebensmittelhilfe gesprochen. Der jetzt gestartete Angriff sei Teil des Kampfs gegen den Terorrismus. «Heute konzentrieren wir uns auf Afghanistan», sagte er, «aber der Kampf ist umfassender. Wir werden nicht scheitern.»

Angriffe von amerikanischen und britischen Kriegsschiffen

Der amerikanische Generalstabschef Richard Myers teilte mit, die Marschflugkörper seien von 15 Bombern sowie 25 Kampfflugzeugen abgeschossen worden. Die Kampfflugzeuge seien sowohl von britischen und amerikanischen Kriegsschiffen als auch von Landstützpunkten zu ihren Einsätzen gestartet.

Ausserdem wurden 50 Tomahawk-Marschflugkörper abgefeuert. Verteidigungs-Minister Rumsfeld bestätigte, dass unter anderem B-2-Bomber im Einsatz waren. Die ersten Angriffe der USA hatten vor allem ein Ziel: Sie sollten «die Bedrohung durch die Luftabwehr und die Flugzeuge der Taliban» ausschalten.

Zu der Aktion gehöre auch der Abwurf von Nahrungsmitteln für die hungernde Bevölkerung Afghanistans. Insgesamt sollen in den nächsten Stunden 37’500 Tonnen abgeworfen werden.

Die Operation sei noch nicht beendet, betonte Rumsfeld. Er liess offen, ob die Angriffe in den kommenden Tagen fortgeführt werden.

Keine NATO-Aktion, EU steht hinter USA

Die NATO ist nicht in die Militärschläge eingebunden, wie am Abend aus Kreisen des westlichen Bündnisses in Brüssel verlautete. «Dies ist eine Aktion der USA», hiess es. Das Bündnis sei «ein wenig im Voraus» informiert worden. Informiert gewesen sein soll auch der russische Präsident Putin.

Die Europäische Union hat sich hinter den bewaffneten Kampf der USA gegen Ziele in Afghanistan gestellt. «Wir bekräftigen unsere Solidarität mit den USA, Grossbritannien und den anderen beteiligten Ländern», sagte der belgische Premierminister Guy Verhofstadt als amtierender EU-Ratspräsident am Sonntagabend im belgischen Fernsehen.

Taliban: «Terroristischer Akt», Zerstörung nicht allzu gross

Die Taliban verurteilten die US-Angriffe als «terroristischen Akt» gegenüber einem unschuldigen Land, sagte ihr Botschafter in Pakistan, Abdul Salam Saif.

«Wir können Osama bin Laden niemals an die USA ausliefern. Wir werden bis zum letzten Atemzug kämpfen», fügte er hinzu. Die USA trügen die Verantwortung, wenn arme und unschuldige Afghanen ums Leben kämen.

Das Taliban-Regime in Afghanistan hat bei den amerikanischen Angriffen am Sonntagabend nach eigenen Angaben ein Flugzeug abgeschossen. Das sagte der stellvertretende Verteidigungsminister der Taliban, Mullah Nur Ali, in einem Interview mit dem arabischen TV-Sender «Al-Dschasira». Das Flugzeug sei im Süden Afghanistans abgeschossen worden. Die Zerstörung durch die ersten US-Angriffe sei nicht allzu gross, sagte er.

Bin Laden: «Krieg gegen den Islam»

Ein Sprecher des als Drahtzieher des Terrors gesuchten Osama Bin Laden kündigte in einem von dem arabischen TV-Sender «Al-Dschasira» ausgestrahlten Video an, nun habe der «Heilige Krieg gegen die Juden und Christen» begonnen. «Dies ist eine Schlacht zwischen dem Glauben und dem Unglauben», sagte er.

Der mutmassliche Terrordrahtzieher Osama Bin Laden hat erstmals eine Verantwortung für die Terrorangriffe in den USA vom 11. September übernommen. Bin Laden erwähnte in einem vermutlich vor dem Gegenschlag aufgenommenen Video zwei Bedingungen, damit die USA Frieden hätten: Der palästinensische Konflikt müsse gelöst werden, und alle amerikanischen Truppen sollten von arabischem Boden abgezogen werden.

Bin Laden und Mullah Omar offenbar nicht getroffen

Der afghanische Taliban-Führer und der islamische Extremist Osama Bin Laden haben die ersten Angriffe der USA und Grossbritanniens nach Angaben des Taliban-Botschafters in Pakistan überlebt. «Dank der Gnade Gottes sind Mullah Omar und Bin Laden am Leben», sagte Botschafter Abdul Salam Saif vor Journalisten in Islamabad.

Früherer afghanischer König schockiert

Der frühere afghanische König Mohammed Sahir Schah zeigte sich «schockiert und traurig» über die Angriffe. «Das ist traurig und natürlich tragisch», sagte der Sprecher des Königs, Hedayat Amin Arsala, der Nachrichtenagentur AFP in Rom, wo Schah im Exil lebt.

Nordallianz optimistisch

Die afghanische Taliban-Miliz wird sich nach Einschätzung der oppositionellen Nordallianz nur noch wenige Tage an der Macht halten können. Nach den Vergeltungs-Angriffen der USA könnten die Taliban ihre Front nördlich der Haupstadt Kabul nicht mehr lange verteidigen, sagte Nordallianz-Sprecher Abdullah Abdullah auf CNN.

Pakistan: Bevölkerung schonen

Pakistan hat die USA ermahnt, die Bevölkerung Afghanistans zu schonen. Die Angriffe müssten gezielt sein und bald beendet werden, sagte ein Regierungssprecher am Sonntag. Er forderte zugleich eine internationale Anstrengung zur Versöhnung in Afghanistan und zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes.

Irak und Iran verurteilen die Angriffe

Irak hat die Angriffe der USA und Grossbritanniens auf Ziele in Afghanistan am Sonntag als «verräterische Aggression» verurteilt. Das staatliche Fernsehen berichtete ausführlich.

Auch Iran hat die US-Luftangriffe scharf verurteilt. Die Attacken seien «unannehmbar», meldete die Nachrichtenagentur IRNA. Teheran hatte die am 11. September in den USA verübten Anschläge verurteilt.

Schweiz verfolgt Situation aufmerksam

Gemäss Bundesrat Pascal Couchepin fühlen sich die Menschen in Iran nach dem US-Angriff in Afghanistan bedroht. Es sei ein «schwerer Moment für alle, mit denen ich gesprochen habe», sagte der Wirtschaftsminister, der zur Zeit in Iran weilt.

Die Nachricht sei während eines Empfangs an der Schweizer Botschaft in Teheran eingetroffen, sagte Couchepin am Sonntagabend im Westschweizer Fernsehen TSR. Unter den 500 Gästen seien auch Vertreter der islamischen Republik Iran gewesen. Sofort habe sich ein Gefühl des Bedrohtseins verbreitet. Iran befinde sich in einer heiklen Lage mit den USA.

Gemäss Aussenminister Joseph Deiss verfolgt die Schweiz aufmerksam, aber auch mit einer gewissen Besorgnis die Entwicklung der Lage in Afghanistan.

Deiss erklärte am Sonntagabend im Westschweizer Fernsehen TSR weiter, der Bundesrat habe immer gesagt, nach den massiven Terroranschlägen in New York mit Tausenden von Toten müsse ein proportionierter, gezielter Schlag gegen die Schuldigen erfolgen. Terrorismus sei eine Bedrohung für alle Länder.

Die Zivilbevölkerung müsse aber dabei unbedingt verschont bleiben, sagte Deiss mit Verweis auf die schlechte humanitäre Lage in Afghanistan.

Bisher sei die Schweiz nicht um Erlaubnis zur Benützung ihres Luftraumes durch amerikanische und britische Flugzeuge gebeten worden. Falls eine solche Anfrage eintreffe, werde die Schweiz selbstverständlich ihren Beitrag an den Kampf gegen Terrorismus leisten.

swissinfo und Agenturen

Mit der Schweiz verbunden

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft