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Lauf, Lora, lauf!

Schildkröten - soweit das Auge reicht. Melanie Fluri

"Ja klar! Wir brauchen dringend Unterstützung bei unserer Arbeit mit Schildkröten. Du kannst gleich morgen als Freiwillige bei uns beginnen. Nimm den Bus um 5 Uhr früh, dann bist du um 12 Uhr in Jacó. Da steigst du in ein Taxi um und fährst an die Playa Hermosa."

Dies war die Information, welche mir der Administrator des Refugio Nacional de Vida Silvestre Playa Hermosa – Punta Mala am Telefon mitteilte.

Obwohl ich seit einiger Zeit eine Aufgabe gesucht hatte, rechnete ich nicht mit einer so baldigen Zusage. Dies hatte für mich zur Konsequenz: Meine sieben Sachen packen und mich von meiner Freundin Ivannia sowie deren Familie verabschieden.

Ankunft in Playa Hermosa

Zum Glück hatte mich der Administrator vorgewarnt. Sonst hätte ich unterwegs nämlich geglaubt, der Taxichauffeur hätte mich entführt. Bei uns  würden sich an diesem Ort Fuchs und Hase gute Nacht wünschen.

Meine ersten Eindrücke waren die hohen Wellen am schönen Sandstrand und die natürliche Ruhe an diesem verlassenen Ort. Vom ersten Augenblick an empfand ich eine unglaubliche Energie und ein Gefühl von Zufriedenheit.

Meine zweiten Eindrücke waren etwas weniger positiv. Der Raum zum Übernachten, der die Bezeichnung Schlafzimmer nicht verdient, wurde nebst Personen von unzähligen Riesenwespen, Fledermäusen sowie grossen Spinnen und Kakerlaken bewohnt.

Die Küche war unglaublich schmutzig, im Vorratsraum fand ich nur schimmlige oder lebendige Esswaren. Im WC muss man bei Regen den Regenschirm aufspannen oder die Variante zwei für eins wählen: das Duschen gleich mit dem WC-Gang kombinieren.

Nächtliche Patrouille

 

Vor meiner Ankunft im Refugio hatte ich keinerlei Kenntnisse über Meeresschildkröten. Per Zufall bin ich an diesem Ort gelandet, durch Empfehlung eines Parkwärters im Nationalpark los Quetzales. Ich sagte zu, ohne zu wissen, was mich erwartete.

Mit der ersten Nachtschicht war ich Feuer und Flamme für die “Tortuga Lora”, die Bastardschilkröte (Lepidochelys olivacea). Beim Patrouillieren am dunklen Strand lernte ich die Spuren der Schildkröten zu sichten und deren Nest zu finden. Mit einem Stock werden die Eier lokalisiert, ausgebuddelt und in einer Plastiktüte zum Vivero, einer grossen Brutstätte, getragen. Dort werden die Eier gezählt und sorgfältig wieder eingebuddelt.

Diesen Ablauf mitzuerleben, war sehr interessant. Viel eindrücklicher und emotionaler war jedoch der Moment, als ich zum ersten Mal eine Schildkröte beim Eierlegen beobachten konnte. Vor Rührung schossen mir Tränen in die Augen. Das Muttertier wählt den Nistplatz aus, gräbt das Loch und legt die Eier mit grosser Behutsamkeit. Anschliessend deckt das Tier das Loch sorgfältig zu und tarnt die Legestelle.

In der Nacht meiner Ankunft brachten wir zu acht insgesamt 51 Nester mit durchschnittlich 100 Eiern in Sicherheit. Mein grösstes Nest enthielt sage und schreibe 145 Eier. Fast unvorstellbar, dass ich 48 Stunden vorher noch nicht einmal gewusst hatte, dass die Bastardschildkröte existiert.

Grund des menschlichen Eingreifens

Wer diese Art von Schildkrötenprojekten nicht kennt, fragt sich wohl, berechtigterweise, weshalb der Mensch in den natürlichen Ablauf der Fortpflanzung eingreift.

Es gibt viele natürliche Feinde, welche die Eier oder die jungen Schildkröten fressen. Diese Verluste jedoch sind von der Natur eingeplant. Genau aus diesem Grund legt eine Schildkröte zwei- bis dreimal jährlich eine grosse Anzahl Eier. Die Eier werden von Vögeln, Waschbären, Hunden und anderen Tieren vertilgt. Die Frischgeschlüpften werden auf dem Weg zum Meer von Krebsen in deren Loch gezerrt oder von Raubvögeln gepackt. Im Meer warten bereits Fische und andere Feinde auf die hilflosen, kleinen Geschöpfe.

Es schmerzt, Zeuge dieser Abläufe zu sein. Einziger Trost ist zu denken, dass dieser Vorgang Teil des Ökosystems ist. Weitaus tragischer erscheint mit das menschliche Eingreifen in den Lebenskreislauf der Bastardschildkröte. Direkt und indirekt gefährdet die Menschheit deren Population. Eierdiebe buddeln die Schildkröteneier aus und verkaufen sie hauptsächlich in Bars für viel Geld. Den Eiern wird eine aphrodisierende Wirkung nachgesagt. Der Verzehr der Schildkröteneier ist in Costa Rica seit Jahren verboten.

Aus meiner Sicht wurde jedoch ein Fehler begangen, als der Verkauf der Eier aus Playa Ostional legalisiert wurde. An diesem Ort stranden Tausende dieser Meerestiere gleichzeitig. Da die Schildkröten ihre Nester gegenseitig beschädigen, ist das Ausbuddeln der Eier während der ersten Stunden legal. Dies wiederum gilt als willkommener Vorwand für Eierverkäufer, welche ihre “Ware” an anderen Stränden anschaffen.

Die Tortuga Lora wird ferner durch den Tourismus (Bauten in Strandnähe, Ausritte und Quads am Strand) oder Schleppnetze der Fischerboote (hauptsächlich Crevettenfänger) gefährdet.

Ab in die Freiheit

 

Während der Saison der Eiablage ist es anstrengend, im Schildkrötenprojekt zu helfen. Tagsüber wird gekocht, geputzt oder der Strand gesäubert. Nachts patrouilliert man mit dem Ziel, die Nester vor den Eierdieben zu entdecken und in Sicherheit zu bringen.

Mit Abstand das Schönste der abwechslungsreichen Freiwilligenarbeit ist jedoch das Freilassen der frisch geschlüpften Schildkröten, die aus der geschützten Geburtsstätte (Vivero) an den Strand getragen und dort freigelassen werden.

Jedes Mal, wenn ich diese kleinen, wehrlosen Geschöpfe auf dem Weg zum Meer beobachte, empfinde ich eine Mischung von Glücksgefühl, Bewunderung und Dankbarkeit. Die Vorstellung, dass zumindest einige von Tausenden freigelassener Schildkröten in ein paar Jahren zum Eierlegen an diesen Strand zurückkehren, ist für mich der grösste Lohn.

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.

Zu ihnen gehört auch Melanie Fluri, die zur Zeit in Costa Rica weilt. 

Bis im Sommer 2011 berichtet sie für swissinfo.ch über ihre Erfahrungen und Beobachtungen in Costa Rica.

Melanie Fluri ist 1985 geboren und von Beruf Primarlehrerin.

Von 2008-2010 arbeitete sie auf ihrem Beruf in Zuchwil, Kanton Solothurn.

Von Februar 2004 bis Oktober 2005 lebte sie in Costa Rica. Eigentlich kam sie nur für 5 Monate her, um einen Sozialeinsatz in einer Primarschule mit behinderten Kindern zu leisten.

Sie verlängerte ihren Aufenthalt jedoch und arbeitete unter anderem als Freiwillige für das Rote Kreuz und unterrichtete in einer Privatuniversität Englisch.

Seit Juli 2010 ist sie in Costa Rica wieder als Freiwillige in verschiedenen Projekten tätig: So arbeitet sie etwa auf einer Schildkrötenfarm, für kurze Zeit bei der Waldfeuerwehr.

 
Neben Deutsch spricht sie Spanisch, Französisch und Englisch.

Sie reist, fotografiert und liest gerne und mag Aktivitäten in der Natur.

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