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«Das IKRK ist heute ein Paradox»

Libyer an Bord einer Fähre, die sich der Rebellenhochburg Bengasi nähert, nachdem sie am 24. Juni 2011 vom IKRK aus Tripolis evakuiert worden waren. AFP

Als humanitäre Organisation hat sich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Vergleich zu seinen Konkurrenten einen eigenen Platz geschaffen. Doch ein Blick ins Innere der ungewöhnlichen Institution zeigt zahlreiche Paradoxe auf.

Dass das IKRK als Schweizer Privatagentur mit speziellem Status im internationalen öffentlichen Recht derzeit gut funktioniert, scheint nach Ansicht von David Forsythe auf den ersten Blick widersprüchlich. Forsythe ist Autor von zwei Büchern über das IKRK.

«Ein weiteres Paradox ist, dass das IKRK liberale Ziele, aber konservative Mittel hat», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Das heisst, das IKRK ist interessiert daran zu versuchen, die menschliche Würde zu beschützen. Aber es geht dabei langsam, vorsichtig vor und versucht, den Konsens von Staaten und anderen wichtigen Akteuren zu erreichen. Es versucht grundsätzlich, innerhalb des Staatssystems zu handeln und gleichzeitig das Wohl der Menschen voranzubringen.»

Es gäbe noch weitere untypische Eigenschaften, betont Forsythe, Professor an der Nebraska-Lincoln University in den USA und Spezialist im Bereich Menschenrechte und internationale Organisationen. «Das IKRK ist vermeintlich international, historisch aber vollumfänglich schweizerisch und auch in der Führung immer noch schweizerisch.»

Neutralität

Am 1. Juli kommt es zu einem Wechsel an der Spitze des IKRK: Nach 12-jähriger Amtszeit als Präsident geht Jakob Kellenberger in Pension und wird durch einen anderen Schweizer Diplomaten, Peter Maurer, ersetzt.

Nach Ansicht von Forsythe hat sich das 1863 von Henry Dunant gegründete IKRK eine spezielle Rolle für sich selbst geschaffen. Während es heute andere grosse Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Amnesty International gibt, hat das IKRK eine Arbeitsweise entwickelt, bei der Diskretion an erster Stelle steht und die es von den anderen Organisationen unterscheidet. Dadurch wird eine spezielle Art von Tätigkeit ermöglicht.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat zum Beispiel eine andere Definition von Neutralität und ist der Ansicht, dass man öffentliche Kritik üben und dennoch gleichzeitig neutral bleiben kann. «Dagegen glaubt das IKRK, je weniger man öffentliche Kritik anbringe, desto eher werde man als neutral angesehen. Wahrscheinlich ist es gut, dass es beide Typen von Organisation gibt», sagt Forsythe.

«Je mehr Amnesty International eine Regierung öffentlich kritisiert, desto eher ist diese vermutlich bereit, dem IKRK diskrete Gefängnisbesuche zu erlauben. Ich glaube, dass das IKRK für sich eine eigene Rolle geschaffen hat für eine neutrale, unabhängige, manchmal diskrete humanitäre Arbeit.»

Verschwiegenheit

Das IKRK legt bekanntlich nur wenig über Dinge offen, die es vor Ort sieht. «Nicht informieren ist eine Praxis, die seit Menschengedenken existiert», sagt die frühere Chefin des IKRK-Rechtsdienstes, Louise Doswald-Beck, gegenüber swissinfo.ch. Sie ist Professorin für internationales Recht am Graduate Institute Genf.

Während ihrer Tätigkeit beim IKRK vertrat sie erfolgreich die Auffassung, dass ihre Mitarbeiter nicht als Zeugen vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien auftreten sollten. «Unter diesen Voraussetzungen war es für das IKRK möglich, Gefängnisbesuche zu machen und zu vertraulichen Informationen zu kommen», so Doswald-Beck.

Der Kernpunkt ist, dass IKRK-Delegierte, die Zugang zu den verschwiegensten Orten der Welt haben, niemandem Auskunft über ihr Wissen geben dürfen ausser der Genfer Zentrale und dem betroffenen Staat. Die Delegierten schweigen gewöhnlich, weil sie befürchten, dass das IKRK sonst zur Zielscheibe werden könnte. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, kann das IKRK den betreffenden Staat nicht zu Verbesserungen nötigen, sondern diesen lediglich an die internationalen Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen erinnern.

Dank dieser Neutralität habe das IKRK im Verlauf der Jahre viel Respekt erlangt, sagt Doswald-Beck. «Regierungen neigen dazu, der IKRK-Sicht der Dinge zu trauen.»

Auch wenn eine solche Politik der Diskretion ihren Nutzen hat, «sollte man diese Verschwiegenheit und Diplomatie nicht zu weit treiben», erklärt David Forsythe. «Es könnte hinderlich werden, weil man so bei einem breiteren Publikum kein Vertrauen aufbauen kann.»

Was nun?

Rückblickend sei Präsident Jakob Kellenberger für das IKRK «sehr gut» gewesen, sagt Forsythe. Das ständig wachsende Budget der Organisation, die kontinuierliche Unterstützung von Seiten der USA und Russlands sowie die Anwerbung von «hellen Köpfen» seien Zeichen dafür, dass Kellenberger einen sehr guten Job gemacht habe, obwohl öffentliche Diplomatie nicht seine Stärke gewesen sei, erklärt Forsythe. «Er ist nicht sehr gut beim Networking an Cocktailpartys.»

Kellenbergers Nachfolger Peter Maurer war Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Durch seinen früheren Job als Schweizer UNO-Botschafter in New York hat er auch Erfahrungen mit internationalen Institutionen. Maurer gilt auch als kontaktfreudiger als sein Vorgänger.

Eine Journalistin, die Kellenberger an seiner Abschiedspressekonferenz fragte, ob er während seiner Amtszeit nicht zu diskret gewesen sei, wurde sofort korrigiert. «Ich habe immer das Maximum von dem gesagt, was ich kann und dabei das Minimum an Schaden an unserer Feldarbeit angerichtet», antwortete der scheidende IKRK-Präsident.

Ob Kellenberger an sozialen Treffen gesellig sein kann oder nicht: in Syrien wurde er seit Beginn des Konfliktes dreimal empfangen. Und es gelang ihm nach eigenen Worten, jedes Mal einen besseren humanitären Zugang im Konfliktgebiet auszuhandeln. Sein Nachfolger wird zumindest darauf aufbauen können.

Die Verpflichtung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu Neutralität und Unabhängigkeit verlangt, dass das das IKRK allen in einem Konflikt beteiligten Seiten humanitäre Hilfe leisten muss.

Als das IKRK 1979 in Kambodscha keine Garantien für die humanitäre Unterstützung von allen Seiten, sowohl auf Seiten der Roten Khmer wie auch ihrer Opfer, erhielt, verzichtete das IKRK auf eine Nahrungsmittelverteilung.

Andere Hilfsorganisationen wie Oxfam nahmen Restriktionen in Kauf, um dennoch einigen vom Hungertod bedrohten Menschen zu helfen.

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

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