Zwei Schweizer Filme brechen das Schweigen über den Bosnienkrieg
In «The Boy from the River Drina» und «No One Will Hurt You» geht es um Themen, über die in der bosnischen Diaspora in der Schweiz selten gesprochen wird. Mit ihren persönlichen, teils tabuisierten Geschichten verarbeiten zwei Regisseure eigene Traumata und suchen Wege zur Heilung und Versöhnung.
Zijad Ibrahimović und Dino Hodić waren noch Kinder, als ihre Familien Anfang der 1990er-Jahre vor dem Krieg auf dem Balkan flohen. Heute leben beide im italienischsprachigen Teil der Schweiz.
Als Filmemacher setzen sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander, um den Geschichten von Migrant:innen aus Bosnien und dem ehemaligen Jugoslawien neues Leben einzuhauchen.
Sowohl Ibrahimović mit «The Boy from the River Drina» («Il ragazzo della Drina») als auch Hodić mit «No One Will Hurt You» («Nessuno vi farà del male») kehren nach Bosnien zurück, um zu verstehen und zu heilen.
Beide Dokumentarfilme wurden kürzlich am 31. Sarajevo Film Festival gezeigt. Dieses bedeutende kreative Forum hat seine Wurzeln in einer dunklen Zeit der Geschichte des Landes.
Die erste Ausgabe des Festivals fand während der fast vierjährigen Belagerung Sarajevos durch serbische nationalistische Truppen von 1992 bis 1996 statt.
Die Spuren des Kriegs sind in Sarajevo bis heute sichtbar: Rund 200 Krater, die von Mörsergranaten hinterlassen wurden, sind über die ganze Stadt verstreut und wurden mit rotem Harz aufgefüllt.
Diese Gedenkstätten, die aufgrund der Einschläge der Granaten die Form von Blumen haben, sind als «Sarajevo-Rosen» bekannt.
Ein Fluss, zu nah und doch so fern
«The Boy from the River Drina» dreht sich um den Fluss, der heute einen grossen Teil der Grenze zwischen Bosnien und Serbien bildet.
Beide Regisseure stammen aus bosnischen Städten in der Nähe dieses bedeutenden Flusses: Ibrahimović aus Loznica und Hodić aus Zvornik.
Ibrahimović begleitet den bekannten bosnischen Menschenrechtsaktivisten Irvin Mujčić auf dessen Rückkehr nach Srebrenica, dem Schauplatz eines der schlimmsten Verbrechen des Kriegs.
Dort widmet Mujčić mehrere Jahre seines Lebens dem Bau eines Dorfs in traditioneller Handarbeit – als Akt der Heilung und des persönlichen Wiederaufbaus.
Mujčić war fünf Jahre alt, als seine Mutter mit ihm und seinen Geschwistern nach Italien floh. Die Leiche seines Vaters, der zurückblieb, wurde nie gefunden.
Der eindringliche Titel«No One Will Hurt You» bezieht sich auf Videoaufnahmen von bosnisch-serbischen Truppen, die während des Bosnienkriegs von 1992 bis 1995 versuchten, bosnisch-muslimische Zivilist:innen herauszulocken, die sich in ihren Häusern versteckten.
Hodić verwebt in seinem Film Nachrichtenaufnahmen mit der Geschichte von Hasan – einem Überlebenden des Genozids von Srebrenica, den er auf Youtube entdeckt und online kennengelernt hat – sowie mit seiner eigenen Biografie und mit Gesprächen mit seinen Grosseltern über ihre Erlebnisse in Bosnien.
Diaspora und emotionale Distanz
Migrant:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien bilden die grösste Einwanderungsgruppe in der Schweiz. Nach dem Zweiten Weltkrieg förderten Programme für Gastarbeiterinnen und -arbeiter ihre Wirtschaftsmigration in die Schweiz. In den 1990er-Jahren wuchs die Diaspora durch Geflüchtete aus den Jugoslawienkriegen stark an.
Die beiden Filmemacher fanden eine neue Heimat in der italienischsprachigen Schweiz, wo die Einwanderungsrate aus dem ehemaligen Jugoslawien geringer ist als in der französisch- und deutschsprachigen Schweiz. Ibrahimovic absolvierte seine Filmausbildung in Lugano, während Hodić in Locarno Regie studierte.
Die Hauptfiguren beider Filme stammen aus Srebrenica, wo 1995 ein Völkermord stattfand, grösstenteils von der Armee der Republika Srpska verübt, einer ethnisch serbischen Miliz. Mehr als 8000 bosnisch-muslimische Männer und Jungen wurden dabei getötet.
Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen während des Kriegs zwei Millionen Menschen aus der Region; eine Million kehrte bis 2004 zurück.
Hodić und Ibrahimović setzen beide auf emotionale Distanz, um ihre Filmwelten zu gestalten, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Hodić sagt, er habe das Gefühl gehabt, dass das Filmmaterial und das Projekt ihm signalisiert hätten, er müsse «selbst Teil des Films sein».
Ibrahimović hingegen wusste von Anfang an, dass seine eigene persönliche Geschichte nicht Teil der Erzählung werden sollte, sondern seine Darstellung von Mujčićs Suche prägen würde. «Jeder hat eine Geschichte, und meine Geschichte hilft mir, andere Geschichten zu verstehen», sagt er.
Indem er Mujčić von hinten filmte, entdeckte Ibrahimović eine Möglichkeit, die emotionalen Mauern seines Protagonisten zu durchbrechen. «Sein Bewusstseinsstrom begann authentischer, persönlicher, intimer zu werden», sagt Ibrahimović.
Sein Produzent Nicola Bernasconi betont, dass die Herkunft des Regisseurs eine entscheidende Rolle spielte.
«Wir wollten jede Art kolonialistischer oder externer Sichtweise vermeiden, etwa einen exotischen Blick auf die Realität auf dem Balkan und den Völkermord», sagt er. «Es war wichtig, dass dies von einem bosnischen Filmemacher gedreht wurde.»
Kriegstabus
Obwohl Hodić seit seiner Kindheit in der Schweiz lebt, fühlt er sich oft mehr mit dem ehemaligen Jugoslawien verbunden als mit seiner Wahlheimat.
«Meine Verbindung besteht weniger zur Schweiz als vielmehr zu den in Bosnien lebenden Bosniern – ich weiss nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass Bosnien einen grossen Teil meiner Identität ausmacht», sagt er.
Hodić sagt, über den Krieg zu sprechen sei «ein Tabu unter Schweizer:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien».
Er selbst spricht darüber nie mit seinen serbischen Freund:innen.«Auch als Opfer empfinden wir Scham und haben Angst, andere Menschen ebenfalls in Verlegenheit zu bringen.»
Filme wie seiner könnten Gespräche anregen und Menschen mit gemeinsamen Erinnerungen wieder zusammenbringen, sagt Hodić.
«Das Schönste an Ex-Jugoslawien war die Vielfalt – und die schönsten Dinge sind in jener Zeit entstanden, als alle noch friedlich zusammenlebten», sagt er. «Ich hoffe, der Film geht in diese Richtung. Die Idee ist, die Menschen wieder zusammenzubringen.»
Ibrahimović verfolgt ein ähnliches Ziel. «Mein Hauptaugenmerk lag darauf, das Licht mehr als die Dunkelheit hervorzuheben und die Hoffnung auf die Zukunft zu betonen, anstatt den Verlust, die Tragödie und die bleibenden Wunden. Das Wichtigste für mich ist, dem Publikum ein Gefühl der Kohärenz [mit Mujčićs Erfahrung] auf emotionaler Ebene und mit einer authentischen Schwingung zu vermitteln.»
«Dino [Hodić] hat dieses Werk im Namen der Versöhnung geschaffen», fügt Vittoria Fiumi, die Produzentin von «No One Will Hurt You», hinzu.
«Es ist wirklich interessant, einen Film mit der zweiten Generation zu drehen, denn es kann zu schwierig sein, mit der ersten Generation an solchen Geschichten zu arbeiten. Ich glaube an die Kraft dieser Generation, die richtige Sprache und die nötige Distanz zu haben, um ihre Geschichte zu erzählen.»
«Sie haben den Krieg geerbt und wissen, was er ist, aber sie haben ihn nicht direkt erlebt, so dass sie darüber sprechen können», sagt Fiumi.
«Ich denke, diese Distanz ist für die Zukunft sehr wertvoll, da die nächsten Generationen nicht auf dieselbe Weise wissen werden, was passiert ist.»
Mehr
Wann ist es ein Völkermord?
Editiert von Catherine Hickley/ts, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Michael Heger
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch