
Trotz Rückzug des Westens: Die Schweiz bleibt aktiv im Niger

Frankreich und die Vereinigten Staaten mussten sich aus dem strategisch wichtigen Niger zurückziehen. Russland und China weiten dort zeitgleich ihren Einfluss aus. Doch die Schweiz setzt im westafrikanischen Land ihren Kampf gegen die Armut fort. In dieser liegt die Ursache für viele Probleme der Region.
Claudio Tognola erinnert sich daran, wie er in den 1990er-Jahren als Student in der westafrikanischen Savanne übernachtete.
Die Feldforschung im Binnenstaat Niger, die er während seines Geografiestudiums an der Universität Lausanne betrieb, weckte in ihm eine tiefe Zuneigung zu dem Land.

Drei Jahrzehnte später ist er zurück in einer Nation und einer Region, die heute von Migrationsrouten nach Europa durchzogen und von Grossmachtrivalitäten und dschihadistischer Gewalt zerrissen ist.
«Damals habe ich mich völlig frei bewegt und geschlafen, wo ich wollte. Sogar nachts draussen im Busch. Wir sind ohne Sicherheitsvorkehrungen überall hingegangen», sagt Tognola.
Heute arbeitet er für die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) im NigerExterner Link. «Das hat sich radikal geändert», sagt er.
Unterdessen ist die Sahelzone, ein ressourcenreicher breiter Streifen, der sich über 5400 Kilometer vom Roten Meer bis zum Atlantik erstreckt, mit mehreren Krisen konfrontiert.
Die wiederum haben auch Auswirkungen auf Europas Kampf gegen die russische Expansion, auf die Flüchtlingsströme nach Europa und auf terroristische Bedrohungen.
Niger liegt an einer von zwei wichtigen MigrationsroutenExterner Link, die Richtung Norden durch Algerien und Libyen und dann über das Mittelmeer nach Italien, in die Schweiz und weiter führen.
Allein im Niger gab es von Juni bis August mehr als 90 gewalttätige Angriffe. Die Zahl wurde Swissinfo mit Bezug auf einen internen Bericht der Europäischen Union genannt.
Sowohl Frankreich als auch die USA, traditionell im Land verankert, haben sich zurückgezogen; Russland hat die Lücke gefüllt. Die Schweiz hat sich bislang entschieden, vor Ort zu bleiben und sich in Entwicklungshilfeprojekten zu engagieren.
«Es besteht die Gefahr, dass die Gewalt sich irgendwann über die Region hinaus ausbreitet», sagt Tognola, der bei der Schweizer Entwicklungsagentur für Niger für die Zusammenarbeit zuständig ist und in der Hauptstadt Niamey lebt. «Wir sitzen in Europa in der ersten Reihe in diesem Konflikt und tragen daher eine Verantwortung für diese Situation.»
Ein schwerer Rückschlag für westliche Interessen war der Militärputsch im Jahr 2023: Die gewählte Regierung Nigers unter Präsident Mohamed Bazoum wurde gestürzt, dieser hatte gute Beziehungen zu Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht, sowie zu den USA gepflegt.
Das afrikanische Land hatte mit der Europäischen Union zusammengearbeitet, um von Schleusern genutzte Migrationsrouten zu blockieren, und französischen und US-amerikanischen Truppen erlaubt, Stützpunkte im Kampf gegen dschihadistische Gruppen zu betreiben.
Boko Haram: Einst eine dominante Kraft, heute weitgehend geschwächt; ihr Erbe sorgt weiterhin für Unsicherheit in der Tschadsee-Region.
Islamischer Staat in der Grossregion Sahara (ISGS): Ein Ableger des IS, der hauptsächlich in Mali und den angrenzenden Gebieten aktiv ist.
JNIM (Gruppe zur Unterstützung des Islams und der Muslime): Eine mit Al-Qaida verbündete Gruppe in der Sahelzone, die ebenfalls von Mali aus operiert.
ISGS und JNIM sind für einen Grossteil der grenzüberschreitenden Gewalt in der Sahelzone verantwortlich.
Laut dem Council on Foreign Relations droht die wachsende Macht extremistischer Gruppen in der Sahelzone die humanitäre Krise zu verschärfen und Afrika zu destabilisieren. Damit gehen deutliche Risiken für die Sicherheit und Interessen EuropasExterner Link einher.
Nach dem Putsch verschlechterten sich die Beziehungen. Das französische Militär zog ab, dann verliessen die USA das Land, russische Waffen und Ausbildner ersetzten sie.
Die neuen Machthaber übernahmen zudem die Kontrolle über die Uranminen des französischen staatlichen Atomkonzerns Orano in Niger.

Premierminister Lamine Zeine Ali Mahaman warf Frankreich vergangenen Monat vor, «Terroristen auszubilden, zu finanzieren und auszurüsten», um Niger zu destabilisieren.
Zeine legte in seiner Rede vor den Vereinten NationenExterner Link dafür keine Beweise vor, Frankreich hatte solche Vorwürfe zuvor zurückgewiesen.
Neben Uran verfügt das Land über bedeutende Öl-, Kohle-, Phosphat- und Goldvorkommen, die das Interesse von Grossmächten, darunter europäischen Nationen, sowie Russland und China geweckt haben.
China hat Afrikas längste Ölpipeline gebaut, sie verläuft über fast 2000 Kilometer durch Niger und sein südliches Nachbarland Benin.
Im August übernahm Niger die Kontrolle über die einzige industrielle Goldmine des LandesExterner Link von ihrem australischen Betreiber, während russische Beamte Interesse am Uranabbau im afrikanischen Land bekundetenExterner Link.
Der ehemalige französische Botschafter in der Zentralafrikanischen Republik, Charles Malinas, erklärte gegenüber Swissinfo, Russlands Präsenz in der Sahelzone diene der Festigung seines strategischen Einflusses.
«Es geht darum, Verbündete in Afrika zu gewinnen, um Russlands Gewicht gegenüber westlichen Ländern zu stärken, zusätzliche Stimmen bei der UNO zu sichern und eine Machtposition zurückzuerlangen, die an die Sowjetzeit anknüpft.»
Oberst Amadou Abdramane, ein Sprecher der Putschisten, warf Paris in einem auf der Website von Al Jazeera veröffentlichten VideoExterner Link vor, die Lage in Niger zu destabilisieren, während Anhänger mit Plakaten und russischen Flaggen durch die Strassen marschierten.
Russische Medien wiederum erklärten, der Putsch sei «von panafrikanischen, antikolonialen Parolen begleitet worden», was auf einen wachsenden Widerstand gegen den westlichen Einfluss in der Sahelzone hindeute.
Die russische staatsnahe Zeitung PravdaExterner Link stellte den Sturz Bazoums und dessen Folgen als Teil einer Welle der «Befreiung Afrikas vom Westen» dar und prophezeite engere Beziehungen zu Russland.
Tatsächlich ist Niger nur das jüngste Beispiel für eine Hinwendung afrikanischer Staaten zu Russland. Zuvor hatten Putsche im benachbarten Mali und Burkina Faso deren Beziehungen zum Westen merklich geschwächt.
Die drei afrikanischen Staaten kündigten im September gemeinsam ihren Rückzug aus der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs an.
Gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin liegt ein Haftbefehl des Gerichtshofs wegen KriegsverbrechenExterner Link im Zusammenhang mit der Invasion der Ukraine vor.
Nathalie Yamb, 56, ist eine schweizerisch-kamerunische Social-Media-Influencerin, geboren in der Schweiz und ansässig in Zug.
Ende August 2025 gab Yamb auf ihrer Facebook-Seite bekanntExterner Link, dass sie einen Diplomatenpass aus Niger erhalten habe und zur Beraterin des Juntachefs ernannt worden sei.
Mit mehr als einer Million Followerinnen und Followern in den sozialen Medien ist sie mit ihrer panafrikanischen, antifranzösischen und pro-russischen Rhetorik zu einer prominenten Stimme im frankophonen Afrika geworden.
Die Europäische Union hat Yamb mit einem Reiseverbot belegt und ihre Vermögenswerte eingefroren. Sie wirft ihr vor, russische Narrative zu fördern, um westliche Länder aus Afrika zu vertreiben. Yamb hat laut EU Verbindungen zu Afric, einer Organisation mit Verbindungen zu russischen privaten MilitärunternehmenExterner Link.
Yamb ist einer von mehreren afrikanischen Influencern im Moskauer Umfeld, die Russland als antikoloniale Macht und Präsident Wladimir Putin als starken Führer darstellen.
«Frankreich ist einer der wichtigsten europäischen Gegner der russischen Invasion in der Ukraine, und Moskau nutzt die Chance, die französische Politik zu untergraben», so ein hochrangiger französischer Diplomat gegenüber Swissinfo, der anonym bleiben will, da er nicht befugt ist, sich zu diesem Thema zu äussern.
«Das Ziel ist, die Beliebtheit Frankreichs und westlicher Länder in Afrika, besonders in der Sahelzone, zu beschädigen, den Platz dieser Nationen einzunehmen und ihre Position zu schwächen – auch in der Ukraine. Es ist ein geopolitisches Bündnisspiel, das auch mit Russlands Handels- und Bergbauinteressen verknüpft ist.»
Doch selbst wenn sich die Lage für den Westen verschlechtert hat: Niger der Armut zu überlassen, die seine Jugend in die Arme des islamischen Extremismus und der organisierten Kriminalität treibt, birgt grosse Risiken.
«Militärische Aspekte sind zweifellos wichtig, da sie der Bevölkerung ein gewisses Mass an Sicherheit bieten», sagt Abdoulaye SounayeExterner Link, Leiter einer Forschungsabteilung am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin, der über frühere staatliche Deradikalisierungs-Programme im Niger und in der Sahelzone geschriebenExterner Link hat.

Die Stabilisierung des Niger und der gesamten Region erfordere jedoch auch wirtschaftliches und diplomatisches Engagement, fügt er hinzu.
«Der diplomatische Aspekt erscheint heute besonders wichtig», sagt Sounaye.
Die Schweiz hat ihre Programme angepasst, um seit dem Putsch eine direkte Unterstützung der Regierung zu vermeiden. Dies betrifft etwa 15% ihrer Investitionen, die sich derzeit auf etwa 22 bis 23 Millionen Schweizer Franken pro Jahr belaufen.
«Die Schweiz erkennt Staaten an, nicht Regierungen», sagt Tognola von der Deza mit Sitz in Bern. «Diese Unterscheidung ermöglicht es uns, den Dialog aufrechtzuerhalten.»
Das Geld helfe, die grosse Not im Niger zu bekämpfen, fügt er hinzu und weist darauf hin, dass in der aktuellen Regenzeit 47 Menschen ums Leben gekommen sind und 50’000 weitere ihr Zuhause verloren haben.
Gleichzeitig trage das Engagement dazu bei, jungen Menschen in Niger Alternativen zu Kriminalität und extremistischer Gewalt zu bieten.
«Armut ist die eigentliche Ursache von Gewalt. Sie erleichtert es terroristischen Organisationen zudem, arbeitslose junge Menschen zu rekrutieren», so Tognola. «Die Schweizer Kooperationsprojekte in Niger bekämpfen die eigentlichen Ursachen der Unsicherheit.»
Editiert von Tony Barrett/vm/gw, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Petra Krimphove/raf

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