Wettlauf um die Linderung der Not nach dem Hurrikan Melissa
Eine Woche, nachdem der Hurrikan Melissa über die Karibik gezogen ist, beginnen die humanitären Hilfskräfte das Ausmass der Schäden erst zu erfassen. Naturkatastrophen dieses Ausmasses stellen auch die Hilfsorganisationen vor ganz neue Herausforderungen.
Als Olle Kaidro am Montagabend in Kingston, Jamaika, aus dem Flugzeug stieg, war der Hurrikan Melissa gerade vorbeigezogen. «Die Stadt selbst ist ruhig», berichtet Kaidro, ein in Tallinn ansässiger Logistikexperte, gegenüber Swissinfo. «Aber der westliche Teil der Insel ist schwer zerstört. Strassen sind eingestürzt, Strände sind überflutet.»
Kaidro ist gekommen, um die Verteilung von Hilfsgütern in einer zerstörten Landschaft zu beschleunigen. Melissa zog letzte Woche über die Karibik, machte Städte dem Erdboden gleich und liess Hunderttausende ohne Strom zurück. Für Jamaika war es der schlimmste Hurrikan, der je verzeichnet wurde. Er forderte mindestens 67 Todesopfer.
Als Koordinator der Lieferkette der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC) arbeitet Kaidro daran, Unterkünfte, Hygiene-Sets und medizinische Versorgung über ein vom Sturm beschädigtes Hilfsnetzwerk zu liefern.
Schon auf Prognosen reagiert
«Flexibilität ist entscheidend», betont er. «Wenn Flughäfen schliessen, nutzen wir kleinere Fahrzeuge und Seewege. Sobald der Flughafen Kingston wieder eröffnet wurde, schickten wir Lieferungen sowohl per Charterflug als auch auf dem Seeweg. Das Hauptziel ist, die Hilfe in Bewegung zu halten, egal was passiert.»
Diese Anpassungsfähigkeit spiegelt die neue Strategie des Roten Kreuzes wider, schon auf Prognosen zu reagieren und nicht erst, wenn die Schäden da sind. In der gesamten Karibik liegen Vorräte und Treibstoff in Drehkreuzen wie Panama bereit für den schnellen Einsatz. Es geht darum, einen Schritt voraus zu sein, in Zeiten, in denen Stürme schneller und zerstörerischer werden.
«Wir haben bereits 64 Tonnen Hilfsgüter aus Panama verschifft», erläutert Kaidro. «Wir hatten Vorräte auf Lager, und vier weitere Charterflüge und fünf Seecontainer sind unterwegs.»
Kaum Todesopfer in Kuba
In den letzten zehn Jahren haben Erfahrungen mit globalen Krisen wie Covid-19 die Lieferketten schneller und anpassungsfähiger gemacht. Hilfsorganisationen setzen nun stärker auf lokale Beschaffung und vorsorgliche Planung. Das ermöglicht ihnen, schneller Hilfe zu leisten und Schocks abzufedern.
In Kuba sei die lokale Expertise ein «Game-Changer» gewesen, meint Yvonne Affolter, Leiterin humanitäre Programme beim Schweizerischen Roten Kreuz. «Bei Hurrikanen dieser Grösse könnte man leicht Hunderte Opfer erwarten. Das ist hier nicht passiert.» Das liege am sehr gut funktionierenden Frühwarn- und Evakuierungssystem. Es habe viele Leben gerettet.
Kuba hat nach dem Hurrikan Melissa bisher keine Todesopfer gemeldet, obwohl wegen schwerer Überschwemmungen im Osten der Insel mehr als 735’000 Menschen evakuiert werden mussten.
Affolter wurde zusammen mit dem kubanischen Roten Kreuz und dem Expertenteam der humanitären Hilfe der Schweiz entsandt, um die sichere Wasserversorgung in sturmgeschädigten Gemeinden wiederherzustellen. Sie kam am Samstag an.
Am Montag fuhren sie und ihre Kollegen nach Osten in Richtung Santiago de Cuba, eine der am stärksten betroffenen Provinzen. «An einem Punkt war es, als würde man durch einen Fluss fahren», berichtet sie. «Einheimische waren gestrandet, Autos kaputtgegangen. Es war ein sehr prägendes Bild.»
Editiert von Virginie Mangin/sb; Übertragung aus dem Englischen: Marco Morell
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