 
Schweizer Klimafachleute: Klimaziel von plus 1,5°C ist unrealistisch
 
Zehn Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen zeigt eine Umfrage unter Klimaforscher:innen in der Schweiz: Die Fachleute glauben nicht mehr an eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5°C. Im Durchschnitt gehen sie von einer Erwärmung von 2,5°C bis 2100 aus.
Mehr als 80 Klimaexpert:innen in der Schweiz haben am einer Umfrage von Swissinfo zur Klimaforschung und zum Zustand des Klimas teilgenommen.
Das Idealziel des Pariser Klimaabkommens – eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5°C – halten mit 95% fast alle Teilnehmer:innen für unrealistisch.
In der Artikelserie «10 Jahre Pariser Abkommen» zeigt Swissinfo auf, was in der Schweiz und weltweit in den Bereichen Emissionen, erneuerbare Energien und Klimaforschung erreicht wurde.
Am 22. Oktober erklärte UNO-Generalsekretär António Guterres ebenfalls, dass die 1,5°C-Schwelle in den kommenden Jahren unweigerlich überschritten werden wird.
Im Durchschnitt gehen die Forscher:innen von einem Anstieg der Erdtemperatur von etwa 2,5°C bis zum Ende dieses Jahrhunderts aus. Harald Bugmann, ordentlicher Professor für Waldökologie an der ETH Zürich, bezeichnet diese Zahl als «realistisch».
«Wir haben die 1,5°C bereits überschritten, und die aktuelle geopolitische Lage gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass die gesteckten Ziele erreicht werden», sagt Bugmann. «Der globale Klimaschutz wird damit deutlich verzögert – falls der Prozess überhaupt je wieder in Gang kommt.»
Und während die Fachwelt in Sachen Klimaziele zunehmend skeptischer wird, brechen die globalen Temperaturen einen Rekord nach dem anderen.
Gemäss der Weltorganisation für Meteorologie war 2024 das erste Jahr, in dem die globale Durchschnittstemperatur mehr als 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau lag, nämlich 1,55°C höher.
Und sollte die die Erwärmung wie vorhergesagt gar 2,5°C erreichen, könnte es für die Schweiz noch unangenehmer werden – denn das Land erwärmt sich doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts könnten es lokal 4 bis 4,5°C mehr sein, was die Schweiz radikal verändern würde.
Mehr als 90% der Schweizer Gletscher dürften dann verschwinden, was die Flussläufe verändern und die sommerliche Wasserversorgung für Landwirtschaft, Wasserkraft und Haushalte gefährden würde.
An heissen Tagen könnten die Temperaturen in Städten wie Zürich und Genf 40°C erreichen oder überschreiten, Hitzewellen wie 2022 könnten fast jährlich auftreten.
Schneesicher wären nur noch Regionen in höheren Lagen, was das Aus für viele Skigebiete in niedrigeren Lagen bedeuten würde.
Eine deutliche Mehrheit der befragten Wissenschaftler:innen geht zudem davon aus, dass die Klimakrise schneller als noch vor zehn Jahren erwartet voranschreitet.
Zwei Drittel der Befragten gaben an, die globale Erwärmung werde entweder «viel schneller» oder «etwas schneller» voranschreiten als damals angenommen. Rund 25% sind der Ansicht, dass sie sich «ungefähr so wie vorhergesagt» entwickelt.
Die Schweiz gehört zu den Ländern mit der schnellsten Erwärmung weltweit. Hier ist der Grund:
 
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Klimawandel: Warum der Temperaturanstieg in der Schweiz besonders markant ist
Intensive Hitze wird Schweizer Bevölkerung treffen
Insgesamt sind die Fachleute in der Klimafrage heute pessimistischer als noch vor zehn Jahren, als das Pariser Abkommen verabschiedet wurde.
60% der Klimawissenschaftler:innen geben an, dass sie die Handlungsbereitschaft der Politik heute pessimistischer einschätzen als damals.
75% gehen davon aus, dass der Klimawandel die Lebensbedingungen in der Schweiz bis 2050 in hohem oder sehr hohem Mass beeinflussen wird, und dass die häufigere und intensivere Hitze besonders in Städten für gefährdete Bevölkerungsgruppen gefährlich werden kann.
«Hitzewellen werden häufiger auftreten und intensiver verlaufen, was sich vor allem in Städten auf die Gesundheit der Menschen auswirken wird», sagt Edouard Davin, Professor an der Universität Bern.
Er befasst sich in seiner Forschung mit den Wechselwirkungen zwischen Land und Atmosphäre, Klimamodellierung, den Auswirkungen der Landnutzung und Änderungen der Landbedeckung auf das Klima.
Er weist auch auf andere wichtige Probleme hin, darunter Infrastrukturschäden durch Naturgefahren wie Überschwemmungen, Erdrutsche und Stürme.
«In den Alpen wird es wahrscheinlich zu mehr Instabilitäten wie Erdrutsche, Gletscherabbrüche, Lawinen und so weiter kommen, bedingt durch das Auftauen des Permafrosts und intensive Niederschläge, zu ausgeprägteren Überschwemmungen und Trockenphasen mit Folgen für Mensch und Infrastruktur, zu häufigeren Ausfällen von Ökosystemen und zu einer Verringerung der Ernteproduktivität», so Davin.
Schweizer Klimapolitik: weiter ungelöst
Auf die Frage, ob sich die Schweiz heute stärker für das Klima engagiert als vor zehn Jahren, äusserte sich die grösste Gruppe der Befragten (ca. 40%) weder optimistisch noch pessimistisch.
Von jenen Forscher:innen, die sich dazu geäussert haben, waren etwas mehr der Ansicht, dass das Land Fortschritte gemacht hat.
Der Fragebogen enthielt 22 Fragen zum aktuellen Stand der Klimaforschung, der Klimapolitik und der globalen Erwärmung zehn Jahre nach dem wegweisenden Pariser Klimaabkommen.
Die Umfrage wurde an 108 Personen an folgenden Institutionen versandt: EPFL, ETH Zürich, Universität Neuenburg, Universität Zürich, Universität Bern, Universität Basel, Universität Genf, Universität Freiburg, Universität Lausanne, Paul Scherrer Institut, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) und Meteo Schweiz.
Achtzig Forschende haben an der Umfrage teilgenommen. Die Ergebnisse können Sie hier (auf Englisch) nachlesen.
Unabhängige Bewertungen beurteilen die schweizerische Klimapolitik jedoch insgesamt als «unzureichend» und verweisen darauf, dass zwischen Zielen und Massnahmen eine Diskrepanz besteht.
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) des Netzwerks Climate Action TrackerExterner Link haben sich enttäuscht über die neuen Schweizer Emissionsziele für 2035 geäussert. Diese seien nicht ehrgeizig genug und setzten zu stark auf Kompensation statt auf einschneidende Senkungen.
Als Haupthindernis für griffigere Klimaschutzmassnahmen in der Schweiz nennen die Befragten den nachlassenden öffentlichen Druck und die Konzentration auf andere Krisen.
«Der Klimawandel ist ein langfristiges Problem, das aber immer sofort in den Hintergrund rückt, wenn andere Krisen als unmittelbar relevant angesehen werden. Ohne eine Wiederbelebung des gesellschaftlichen Drucks, etwa durch die ‘Fridays for Future’-Bewegung, sehe ich schwarz für die Schweizer Klimapolitik», sagt Axel Michaelow, Leiter der Forschungsgruppe für internationale Klimapolitik an der Universität Zürich.
Vergleichen Sie Ihre Ansichten:
Gemäss Michaelows setze die Klimapolitik heute eher auf das Prinzip «Zuckerbrot» und erlaube in Zeiten des Kostendrucks nicht nachhaltige Subventionen. Seiner Meinung bräuchte es aber «Peitschen», zum Beispiel in Form von CO2-Steuern, wie sie in Artikel 6 des Pariser Abkommens vorgesehen sind.
«Der internationale Emissionshandel muss eine Schlüsselrolle spielen, damit der Ausstoss von Treibhausgasen auf der ganzen Welt effektiv gesenkt wird», sagt er. «Die Führungsrolle der Schweiz in diesem Bereich sollte ausgebaut und langfristig stabilisiert werden.»
Die Verantwortung der Schweiz
Die Frage, ob der Schweiz aufgrund ihres Reichtums und ihrer Emissionsbeiträge eine besondere Verantwortung für den Klimaschutz zukommt, antworteten über 50 Forscher:innen – ca. 80% – mit «trifft voll und ganz zu», weitere zehn mit «trifft eher zu». Nur für einige wenige trifft die Aussage nicht zu.
Für viele der Befragten ergibt sich diese Verantwortung aus dem Wohlstand der Schweiz und ihrer Fähigkeit, die globale Diskussion zu beeinflussen.
Anders sieht das Rolf Weingartner, emeritierter Professor für Hydrologie an der Universität Bern. Seiner Einschätzung nach fehlt es der Schweiz «an politischem Ehrgeiz, sich ernsthaft mit Klima- und Umweltfragen auseinanderzusetzen und diese in Massnahmen umzusetzen».
«Wir sind zwar sehr gut darin, Veränderungen zu beobachten und zu verstehen, tun uns aber enorm schwer damit, diese Erkenntnisse in proaktives Handeln umzusetzen», ergänzt er.
Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf alpinen Wassersystemen und den Auswirkungen des Klimawandels auf die Hydrologie. «Dabei könnte die Schweiz eine Vorreiterrolle spielen!»
Was ist Ihre Meinung? Debattieren Sie mit:
Das «Übereinkommen von Paris», allgemein als Pariser Klimaabkommen bezeichnet, ist das erste internationale und rechtsverbindliche Abkommen zum globalen Klima.
Es verpflichtet alle Länder, den Ausstoss von Treibhausgasen zu senken. Das Abkommen wurde am 12. Dezember 2015 in Paris an der UNO-Klimakonferenz (COP21) verabschiedet.
Ziel des Abkommens ist es, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C gegenüber vorindustriellem Niveau zu begrenzen – angestrebt wird ein maximaler Anstieg von 1,5°C. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Emissionen bis 2050 auf netto Null gesenkt werden (Klimaneutralität).
Das Pariser Abkommen wurde von 196 Ländern unterzeichnet, darunter auch die Schweiz (2017).
Editiert von Gabe Bullard/ts, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler/raf
 
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