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Mikroplastik im Salat: Wie gefährlich sind Schadstoffe aus Autoreifen?

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In der Schweiz ist der Reifenabrieb die grösste Quelle von Mikroplastik in der Umwelt (8900 Tonnen pro Jahr). Keystone

Bei jeder Fahrt werfen Fahrzeuge Reifenpartikel ab. In der Schweiz ist der Reifenabrieb die grösste Quelle für Mikroplastik in der Umwelt. Wissenschaftler:innen untersuchen die Risiken für Mensch und Umwelt.

Jedes Mal, wenn ein Auto oder ein Lastwagen stark beschleunigt oder bremst, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass winzige Reifenfragmente abfallen und durch Regen und Wind verstreut werden. Diese in der Regel 2,5-40 Mikrometer grossen Partikel landen meist im nahe gelegenen Boden. Sie vermischen sich auch mit dem Autobahnabfluss und gelangen schliesslich in Flüsse und Meere. Aus grösseren Fragmenten können Chemikalien in die Umwelt entweichen. Doch die kleinsten Teile und der Staub werden in die Luft geschleudert und können beim Einatmen in die Lunge gelangen.

Laut Ursula Schneider Schüttel, Präsidentin der ältesten Schweizer Naturschutzorganisation Pro Natura, handelt es sich bei den Reifenabriebpartikeln um das gleiche Problem wie bei den Pestiziden. “Sie sind überall in der Umwelt, und wir können nicht kontrollieren, wohin sie gelangen.”

Ein durchschnittlicher Autoreifen verliert im Laufe seines Lebens vier KilogrammExterner Link an Partikeln. Gemäss SchätzungenExterner Link werden jedes Jahr weltweit insgesamt sechs Millionen Tonnen Reifenpartikel freigesetzt. In der Schweiz ist der Reifenabrieb nach Angaben des Bundesamts für UmweltExterner Link die grösste Quelle für Mikroplastik in der Umwelt (8900 Tonnen pro Jahr). In den letzten 30 Jahren haben sich 200’000 Tonnen angesammeltExterner Link, vor allem im Boden.

Während die Abgas- und Bremsstaubemissionen in den letzten Jahren gesunken sind, stiegen die Emissionen von Reifenpartikeln an, was auf den Trend zu grösseren und leistungsfähigeren Autos zurückzuführen ist. Regulierungsbehörden und Politiker:innen stehen vor der Frage, was sie gegen die Mikroplastikverschmutzung unternehmen sollen. Ausmass und Komplexität des Reifenverschleissproblems sind heute besser erforscht, doch über die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt ist noch wenig bekannt. Forscher:innen in der Schweiz arbeiten daran, sie zu ergründen.

Giftige Partikel in der Nahrungskette

Bei meinem Besuch in einem Forschungslabor für Reifenverschmutzung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) stehen bunte Schalen mit Sandfliegenlarven und Wasserschnecken auf den Tischen. Sie werden einem Sediment mit Bodenpartikeln und Chemikalien aus verschiedenen Reifen ausgesetzt. Per In-vitro-Verfahren misst der Forscher Florian Breider mit seinem Team das Vorhandensein bestimmter Reifenchemikalien im tierischen Gewebe.

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Nahaufnahme unter dem Mikroskop eines Reifenpartikels (Mitte) mit Schmutz und Straßenpartikeln. EPFL

“Diese Art der Verschmutzung ist es auf jeden Fall wert, untersucht zu werden”, sagt Breider gegenüber SWI swissinfo.ch. Er weist darauf hin, dass sich die meisten Forschungen heute auf die Verschmutzung durch Mikroplastik aus Verpackungen und Abfällen konzentrieren, während Mikroplastik aus Reifen 30-40% der Plastikverschmutzung in der Umwelt ausmacht.

Der 42-jährige Umweltingenieur leitet Teams an der EPFL und zwei weiteren Schweizer Instituten, die an der Erforschung der Reifentoxizität arbeiten. Sie werden dabei von einem Konsortium von Reifenherstellern gesponsert.

In erster Linie wollen Breider und sein Team wissen, ob und wie Partikelverunreinigungen in der Nahrungskette von einfachen Larven bis zur Regenbogenforelle weitergegeben werden und welche toxikologischen Auswirkungen sie haben.

In ihren ersten Arbeiten aus den Jahren 2021Externer Link und 2022Externer Link stellten sie fest, dass Reifenpartikelverbindungen keine akute Toxizitätsgefahr für Regenbogenforellen darstellen. Die Arbeit an den langfristigen Auswirkungen geht jedoch weiter.

“Ich kann Ihnen sagen, dass die Reifenpartikel giftig sind”, kommentiert Breider seine jüngsten Forschungsergebnisse. Er weist jedoch darauf hin, dass das genaue Ausmass der Toxizität noch nicht bekannt sei, weil “wir nicht genügend Informationen haben”.

Wo Gummipartikel aus Reifenabrieb hingeht
Untersuchungen der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) aus dem Jahr 2019 zeigen, dass rund drei Viertel der Reifenpartikel am Strassenrand landen. Der Rest wird weiter verstreut. Empa

Ein einfacher Autoreifen ist hochkomplex. Er enthält rund 400 verschiedene chemische Verbindungen, so Emissions Analytics, ein britisches Unternehmen, das den Verschleiss von Reifen untersucht. Einige enthalten schädliche Chemikalien wie polyaromatische Kohlenwasserstoffe, Benzothiazole, Isopren und Schwermetalle wie Zink und Blei.

Ein Inhaltsstoff, 6PPD, eine gängige Verbindung, die verwendet wird, um die Alterung von Reifen zu verhindern, scheint besonders problematisch zu sein. Oxidiert er, verwandelt er sich in das giftige 6PPD-Chinon. Das EPFL-Team untersucht auch diese Verbindung und deren Auswirkungen.

Im Jahr 2020 stellten Forscher:innen der University of Washington fest, dass 6PPD-Chinon mit dem Massensterben von Coho-Lachsen in der Elliott Bay von Seattle in Verbindung gebracht wird. 2022 veröffentlichte das Universitätsteam eine neue Studie, aus der hervorging, dass 6PPD-Chinon für Cohos giftiger ist als bisher angenommen und als “sehr hoch toxischer” Schadstoff für Wasserorganismen eingestuft werden sollte. Ähnliche Ergebnisse wurden in Kanada und Australien beobachtet.

Die Chemikalie ist jedoch wahrscheinlich bereits weit verbreitet. Eine StudieExterner Link österreichischer Wissenschaftler:innen vom Dezember 2022 zeigt, dass Salatpflanzen 6PPD und 6PPD-Chinon, das aus Autoreifen stammt, ohne weiteres aufnehmen. In Südchina fanden Wissenschaftler:innen im Jahr 2022 sowohl 6PPD als auch 6PPD-Chinon im Urin von Erwachsenen und KindernExterner Link, möglicherweise verursacht durch das Einatmen von Reifenstaub.

“In Anbetracht der Tatsache, dass 6PPD-Chinon ein tödliches Gift für mehrere aquatische Arten ist, erfordern die potenziellen Risiken für den Menschen, die von einer langfristigen Exposition ausgehen, dringend Aufmerksamkeit”, schreiben die chinesischen Autor:innenExterner Link.

Die Reaktion der Reifenhersteller

Das Tire Industry Project (TIP)Externer Link ist ein Konsortium aus zehn grossen Reifenherstellern. Seit 2005 hat dieses fast 25 von Expert:innen begutachtete wissenschaftliche Arbeiten über Reifen- und Strassenabriebpartikel (TRWP) in Auftrag gegeben und veröffentlicht, darunter auch die Arbeiten in der Schweiz.

Die allgemeinen Einschätzungen zur Schädlichkeit von TRWP sind nach Angaben des Konsortiums unterschiedlich. Während einige Studien darauf hindeuten, dass TRWP Auswirkungen auf bestimmte Tierarten haben könnten, legen andere Untersuchungen nahe, dass TRWP wahrscheinlich kein signifikantes Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellen, sagt Sprecher Gavin Whitmore.

Die US-Forschungsergebnisse zu 6PPD-Chinon im Jahr 2020 bewegten TIP dazu, sein Forschungsprogramm auszuweiten, um diese neu identifizierte Chemikalie besser zu verstehen, fügt er hinzu.

Was wird unternommen?

In der Schweiz wollen sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Bundesamt für Strassen (ASTRA), nicht zu 6PPD oder der allgemeinen Frage der Toxizität von Autoreifen äussern.

Es sei unwahrscheinlich, dass die Bundesbehörden in nächster Zeit spezifische Massnahmen gegen problematische Reifenchemikalien ergreifen werden, so das Bundesamt für Umwelt, das sich ebenfalls mit dem Thema Reifenabrieb befasst.

“Da Fahrzeugreifen für den Schweizer Markt ausschliesslich aus dem Ausland importiert werden, würde eine einseitige Beschränkung von Reifenadditiven in der Schweiz zu erheblichen Handelshemmnissen führen und ist daher nicht realistisch”, sagt Sprecherin Dorine Kouyoumdjian.

Im November 2022 schlug die Europäische Kommission strengere GrenzwerteExterner Link für Fahrzeugemissionen und neue Normen für die Verschmutzung durch Bremsen und Reifen vor. Die neuen Grenzwerte für Autos sollen am 1. Juli 2025 in Kraft treten. In der EU werden derzeit Abklärungen zur Persistenz und Bioakkumulation von 6PPD durchgeführt, Einschränkungen sind jedoch keine geplant.

Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, harmonisiert sie ihr Chemikalienrecht mit dem der 28 Mitgliedsstaaten. Auf der politischen Agenda des Alpenlandes sind die Verschmutzung durch Mikroplastik und insbesondere der Reifenverschleiss nach oben gerückt. Letztes Jahr veröffentlichte die Regierung einen 62-seitigen Bericht zur Verschmutzung von Kunststoffen und der Umwelt, der etliche Hinweise auf den Reifenverschleiss enthält.

Diesen Sommer soll die Regierung einen Bericht über die Verschmutzung durch Reifenabrieb veröffentlichen. Dies geht aus einer Antwort auf eine Anfrage von Schneider Schüttel von Pro Natura hervor, die dem Parlament angehört. Sie möchte, dass die Behörden das Bewusstsein schärfen und Massnahmen zur Eindämmung vorschlagen.

Schneider Schüttel befürwortet den Ausbau des bestehenden Netzes von Strassenabwasser-Behandlungsanlagen, die mit natürlichen und technischen Verfahren Reifenabriebpartikel entfernen, das Abwasser reinigen und Schwermetalle auf den meistbefahrenen Autobahnabschnitten herausfiltern.

Die Nationalrätin räumt ein, dass der Handlungsspielraum der Schweizer Regierung bei der Bekämpfung der Reifenverschmutzung begrenzt ist. “Aber sie könnte zumindest bestimmte problematische Stoffe verbieten oder die Industrie dazu bewegen, andere, weniger schädliche Stoffe zu verwenden”, sagt sie.

“Wir können nicht nur über das Plastikproblem und die Beseitigung von Plastik sprechen, wenn wir die Tatsache ausser Acht lassen, dass der grösste Teil des Mikroplastiks aus Reifen stammt.”

Editiert von Sabrina Weiss/Veronica DeVore, Übertragen aus dem Englischen: Michael Heger

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