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Von Zylinderhüten und hüpfenden Astronauten

Spieler unter sich an den Berliner Gamestagen 2012. Deutsche Gamestage

An den deutschen Gamestagen in Berlin ist die Schweizer Computerspiel-Design-Szene prominent vertreten und steht mit ihrem "Spielplatz Schweiz" gar im Fokus. Die Tüftler präsentieren ihre neuen Erfindungen zwischen Spiel, Kunst und Forschung.

Das merkwürdige Wesen sieht aus wie ein Igel mit Pelz. Es heisst Feist und ist klein, aber wehrhaft. Feist schlägt sich durch düstere Tannenwälder und kämpft mit Stöcken gegen allerlei grosses und kleines Getier.

Die Erfinder von Feist sind Florian Faller und Adrian Stutz. “Wir wollten ein Computerspiel kreieren, das ein breites Publikum anspricht”, sagt Florian Faller, Gamedesigner und Dozent an der Zürcher Hochschule für Künste (ZhdK). Ein Spiel für Menschen, die sonst wenig oder gar nicht spielen, ergänzt er.

Tatsächlich erinnert die Szenerie in Feist an ein altmodisches Bilderbuch; die Macher haben auf eine komplexe Menüsteuerung verzichtet, einen Punktestand oder sonstige Statusansagen gibt es nicht. Im Herbst soll Feist auf den Markt kommen.

Derzeit tüfteln Faller und Stutz an den Details und stellen ihr “Baby” auf internationalen Computerspiele-Festivals vor, wie zur Zeit in Berlin.

Faller und Stutz sind nicht die einzigen Schweizer Gamedesigner, die mit ihren neuen Computerspielen an die Spree gereist sind. Im Gegenteil steht die Schweizer Szene in Berlin im Fokus: “Spielplatz Schweiz” heisst die Plattform, die von der Schweizer Kulturstiftung im Rahmen ihres Programms “GameCulture” organisiert wurde.

Einblick ins aktuelle Portfolio

In Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich, der ZhdK und der Schweizer Botschaft in Berlin geben insgesamt 18 Designer – die Szene ist heute überwiegend männlich – einen Einblick in ihr aktuelles Portfolio.

Zum Beispiel Christian L. Scheurer. Der gebürtige Berner ist einer der international erfolgreichsten Konzeptdesigner, der nicht nur die visuelle Gestaltung von Filmen wie “Titanic”, “Matrix” oder “The Fifth Element” geprägt hat, sondern auch regelmässig in grosse Spielprojekte eingebunden ist. So für “Final Fantasy IX”, einem Rollenspiel mit über 55 Stunden Story, an dessen Bildern Scheurer zwei Jahre lang gearbeitet hat.

“Wenn ich am visuellen Konzept eines Computerspiels arbeite, beginne ich meistens mit einem leeren Raum”, erläutert Scheurer, der seit gut 20 Jahren in den USA lebt. Nach und nach fülle sich dieser Raum mit Figuren. “Die Protagonisten beginnen, eine Geschichte zu erzählen und erschaffen sich ihre Welt.”

Unabhängige Entwickler-Teams

In einer eigenen Welt spielt auch Mario von Rickenbachs “Mirage”. Das surreale Spiel, das an Salvador Dalí und Monty Python erinnert, handelt von einem schwarzen Zylinderhut, der sich auf eine Reise unter Wasser begibt. Je nachdem, mit welchen menschlichen Körperteilen oder Sinnesorganen sich der Hut ausstattet, besitzt er unterschiedliche Fähigkeiten.

Von “Mirage” existiert erst ein Prototyp. Am 29. Mai soll in der Jazzkantine Luzern live die Musik zu dem Computerspiel eingespielt werden. Wann das Spiel fertig sein wird, weiss der selbständige Gamedesigner und wissenschaftliche Mitarbeiter an der ZhdK nicht – wie die meisten seiner Schweizer Kollegen und Kolleginnen arbeitet der 24-jährige ohne einen grossen Verlag im Hintergrund und damit ohne finanzielles Polster.

“Typisch für die Schweizer Gamedesign-Szene sind unabhängige kleine Entwickler-Teams”, sagt denn auch Andreas Lange, Direktor des Berliner Computerspiele-Museums, einem der Partner der Deutschen Gamestage. Die Macher seien unabhängig von Vorgaben der Gameindustrie, ihre Erfindungen entsprechend speziell und ästhetisch.

“Die Spiele bewegen sich an der Grenze zum Kunstwerk.” Die Kehrseite der Unabhängigkeit sei das fehlende Budget, so dass meistens keine durchorganisierten Entwicklungsprozesse möglich seien. “Entsprechend lange dauert es, bis ein Spiel wirklich fertig ist”, sagt Lange. Für die Fangemeinde gibt es derweil einen Trailer, oder es werden – wie im Fall von Feist – an Festivals Prototypen gezeigt und diskutiert.

Mehr als Unterhaltung

In eine ganz andere Kategorie fällt das Schweizer Computerspiel “Gabarello”, das ebenfalls in Berlin vorgestellt wird. “Gabarello” ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt und zeigt, dass Computerspiele heute viel mehr können, als nur unterhalten: Wer es “spielt”, hat in den allermeisten Fällen ein Gehirntrauma oder eine Wirbelsäulenverletzung erlitten und muss neu gehen lernen.

In der Rehabilitation werden dafür heute unter anderem Therapie-Roboter eingesetzt, etwa der Lokomat, der aus einem Laufband und zwei darauf montierten Kunststoffbeinen besteht. Die Patienten schlüpfen in diese Beine, und der Roboter mach Gehbewegungen.

Zu Beginn der oft monatelangen Therapie geht der Roboter mit dem Patienten, zunehmend bestimmen jedoch die Patienten das Tempo. Weil das Training täglich erfolgen muss und monoton ist, haben vor allem Kinder Mühe damit.

Hier setzt “Gabarello” an: Die Patienten schauen beim Gehen auf einen Bildschirm und sehen einen kleinen Astronauten, der auf einem Planeten herumwandert. Je mehr sich die Patienten anstrengen, ihre Beine selber zu bewegen, desto mehr kann der Astronaut – was natürlich motiviert: Er kann schneller gehen, höher hüpfen und dazu noch Dinge tun wie Blumen pflücken.

“Gabarello” ist entstanden in einer Zusammenarbeit des Zürcher Kinderspitals, der ETH und Universität Zürich, den Herstellern des Therapieroboters und den Game Designern der Zürcher Hochschule der Künste ZHDK.

Vor zwei Jahren lancierte die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia das Projekt “GameCulture”. Im Zentrum stehen  gesellschaftliche, wirtschaftliche und ästhetische Fragen rund um Computerspiele als neue Kunstform.

Mit einem Budget von 1,5 Millionen Franken finanziert Pro Helvetia noch bis Ende dieses Jahres Ausstellungen, Publikationen und die Entwicklung “kulturell wertvoller Spiele”.

Ziel des Projekts ist Aufklärung und Information. Das Computerspiel sei heute ein fester Bestandteil der Alltagskultur, die Game-Industrie mittlerweile zum umsatzstärksten Zweig der Kulturwirtschaft aufgestiegen, heisst es bei Pro Hevetia.

Deshalb sei es wichtig, die Aufmerksamkeit des Publikums auf qualitativ gute Produkte zu lenken und bei der Entwicklung der Spiele das kreative Potenzial zu fördern.

Partner des Projekts sind die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH), die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), der Schweizer Computerspiel-Entwickler-Verband, die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), die Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), das Bundesamt für Kultur (BAK), Swissnex und die Wirtschafts- und Standortförderung Zürich.

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