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Aufbruch statt Verharren

Peter Ulrich ist überzeugt, dass die kommenden Generationen umdenken werden. Keystone Archive

Die Gesellschaft wird immer älter und der Ruf nach einer Erhöhung des Pensionsalters immer lauter -auch in der Schweiz. Dies diene der Erhaltung des Status quo, kritisiert der Wirtschaftsethiker.

Im Gespräch mit swissinfo plädiert Peter Ulrich für einen Systemwechsel.

Bürgerliche Politiker, allen voran Wirtschaftsminister Pascal Couchepin, wollen – angesichts der ungünstigen demografischen Entwicklung – endlich handeln: Sie fordern eine Erhöhung des Rentenalters auf 67.

Die Gewerkschaften reagieren empört, und knapp 80% der Bevölkerung sind, gemäss einer Studie, gegen einen solchen Schritt. Dass gehandelt werden muss, ist allen klar, nimmt die Zahl der Rentenbezüger gegenüber jener der Erwerbstätigen doch stetig zu.

Laut Peter Ulrich, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, ist die Erhöhung des Rentenalters zwar eine naheliegende Lösung, die aber eher auf der Symptomebene liege.

Da der Sinn der fortschreitenden Rationalisierung darin bestehe, die Wirtschaft produktiver zu machen, müsse das Volumen an erforderlicher Arbeit eher abnehmen als steigen. Für Ulrich ist die Zeit der Vollbeschäftigung vorbei. Gefragt sei ein Systemwechsel.

swissinfo: Der Wirtschaft geht es schlecht, die Arbeitslosigkeit steigt. Ist es da nicht absurd, mit einer Erhöhung des Rentenalters die Zahl der Erwerbstätigen noch zu erhöhen?

Peter Ulrich: Ich finde diesen Vorschlag in der Tat äusserst realitätsfremd. Die Befürworter eines höheren AHV-Alters rechtfertigen ihre Haltung mit der demografischen Entwicklung. Da bin ich skeptisch. Denn wenn Finanzleute uns sagen wollen, wie in 20 Jahren die Bevölkerungsstruktur aussieht, missachten sie sehr viele mögliche Einflüsse.

Denken wir nur an die Familienpolitik, an Einwanderung und den Strukturwandel der erwerbstätigen Bevölkerung. Die Frag ist doch, warum wir dieses Problem aussitzen sollten.

Wollen die Bürgerlichen und Arbeitgeber wirklich mehr ältere Arbeitnehmer, oder zeigt sich da eine gewisse Scheinheiligkeit?

P.U.: Was sie wirklich wollen, ist Politik verhindern. Sie wollen das Problem nicht ursächlich angehen. Es ist eine Verteidigung des Status quo mit der Tendenz, die Situation zur Senkung der privatwirtschaftlichen Kosten auszunutzen. Reine Symptombekämpfung, ohne Horizont und Perspektive für eine lebenswerte Gesellschaft.

Immer mehr Leute werden frühpensioniert oder beziehen eine Invalidenrente. Würde nun noch länger gearbeitet, wird da nicht zwangsläufig die Zahl der Working Poor weiter ansteigen?

P.U.: Es handelt sich ganz klar um eine Politik der Problemverschiebung. Diese Zahl der Working Poor wird in der Schweiz weiter steigen. Ob der Sozialstaat am Ende mit einem höheren AHV-Alter wirklich billiger wird, scheint mir höchst fraglich.

Was kann gegen die Überalterung der Gesellschaft getan werden?

P.U.: Wer Kinder aufzieht und arbeitet, leistet den doppelten Beitrag. Er bezahlt seine eigenen AHV-Beiträge und zugleich die Beiträge für die Versorgung der kinderlosen Menschen, oft Doppelverdiener, die im Alter dann auf Kosten jener leben, die Kinder haben. Das ist ein Systemfehler.

Wir müssten eine Familienförderungs-Politik haben, die das Aufziehen von Kindern als einen volkswirtschaftlichen Beitrag honoriert. Ich bin überzeugt, dass dann genügend junge Menschen wieder gerne Kinder hätten.

Sie sprechen von einer Honorierung der Familien. Bürgerliche werden umgehend einwenden, das sei nicht finanzierbar.

P.U.: Was finanzierbar ist und was nicht, hängt im Wesentlichen vom Leitbild der Gesellschaft ab, in der wir leben wollen. Finanzierbar ist alles und nichts. Das ist ein Sachzwang-Argument.

Finanzierungs-Lösungen haben Verteilungs-Effekte. Wer behauptet, etwas sei nicht finanzierbar, der drückt damit nur aus, wie wenig ihm das Anliegen wert ist. Wir müssen mit der Zeit unseren Horizont erweitern und lernen, völlig anders zu denken, sofern wir die Volkswirtschaft noch als die Wirtschaft des Volkes verstehen wollen.

Läuft das auf eine grundlegende Veränderung der Arbeitswelt hinaus?

P.U.: Pragmatisch gesehen geht es um die Frage, wie wir die steigende Produktivität auf die verschiedenen Nutzungs-Möglichkeiten verteilen wollen.

Eine Option, die sich in der Nachkriegszeit bewährt hat, ist die, einen Teil des Produktivitäts-Fortschritts in Form allgemeiner Arbeitszeit-Verkürzung zu konsumieren.

Sie haben die Idee einer allgemeinen Bürgerrente entwickelt, einer Rente für jeden und jede. Ist so etwas überhaupt finanzierbar?

P.U.: Die Verteilung des erwirtschafteten Sozialprodukts alleine über den Arbeitsmarkt war vielleicht eine gute Lösung zu Zeiten, als jedermann, der arbeiten wollte, eine Stelle fand.

Wenn aber auf dem Arbeitsmarkt immer mehr gebrochene Erwerbs-Biografien normal werden und die Menschen immer stärker in existenzielle Krisen geraten, liegt es auf der Hand, zu sagen: Verteilen wir doch einen bescheidenen Anteil des Sozialprodukts anders als über den Arbeitsmarkt.

Eine Variante, die seit langem intensiv diskutiert wird, ist das Bürgergeld. Ein volles einheitliches Bürgergeld für alle Erwachsenen und ein halbes Bürgergeld für Kinder. Vielleicht wäre das nicht existenzdeckend. Es könnte aber einen erheblichen Teil zur Entlastung der traditionellen Sozialversicherungen leisten.

Gibt es so etwas schon irgendwo ansatzweise?

P.U.: In sparsamen Varianten gibt es dies – erstaunlicherweise – in einzelnen amerikanischen Bundesstaaten. In Europa gibt es verschiedene durchgerechnete Modelle.

Wenn wir ein existenzdeckendes Bürgergeld möchten, müsste auch eine entsprechende Bürgergeld-Abgabe eingeführt werden. Konkret würden also höhere Einkommens-Steuern bezahlt. Das Ergebnis wäre eine etwas flachere Einkommensverteilung.

Wer gut verdient, erhält netto natürlich kein Bürgergeld, sondern leistet einen Solidaritätsbeitrag in Form dieser Bürgergeld-Abgabe für die wenig Verdienenden oder Arbeitslosen. Wer wenig verdient, bezahlt eine geringe Bürgergeld-Abgabe oder gar keine und erhält netto einen Zustupf.

Würde da überhaupt noch jemand arbeiten?

P.U.: Die Pointe dieser Idee ist, dass man dies in Form einer Marktlösung ausbalancieren könnte. Je nach Wirtschaftslage wäre das Bürgergeld höher oder tiefer. Die Anreize zu arbeiten würden also erhöht oder gemindert.

Da würde sich wohl manch einer mit einem nicht existenzdeckenden Bürgergeld auf eine griechischen Insel verziehen, wo das Leben billiger ist.

P.U.: Das ist denkbar. Die heutigen Vordenker eines wahrhaftigen Liberalismus finden genau das wünschenswert. Wieso sollten Menschen nicht die Freiheit haben, ihre eigene Form des guten Lebens zu wählen, wenn das eine materiell sparsame Lebensform ist und sie nicht auf Kosten anderer leben?

Wer nämlich darauf verzichtet, ein knappes, volkswirtschaftliches Gut zu beanspruchen – und Arbeit gehört offenbar zunehmend dazu – der verdient es, von der Volkswirtschaft in bescheidener Weise für diesen Verzicht entschädigt zu werden.

Wird eine solche Lösung in der Praxis je durchsetzbar sein?

P.U.: Ich sehe das in den nächsten paar Jahren nicht als pragmatische Lösung. Das ist eine Orientierungs-Idee, wohin die Reise in fernerer Zukunft gehen könnte. Letztlich ist es eine kulturelle Frage.

Unsere Generation ist noch voll im alten, schweizerisch-calvinistischen Arbeitsethos verhaftet. Jeder, der nicht ein Vollpensum oder mehr absolviert, wird verdächtigt, in der sozialen Hängematte zu liegen.

Ich bin aber zuversichtlich, dass die nächsten Generationen diesen Arbeitsethos hinter sich lassen werden, weil er einfach nicht mehr zur Realität passt. Dann wird das Umdenken beginnen.

Man wird zur Einsicht kommen, dass in einer hoch entwickelten Gesellschaft allen Mitgliedern – unabhängig von ihrer Lebensform und unabhängig davon, ob sie Glück oder Pech auf dem Arbeitsmarkt haben – zumindest ein anständiges Lebensniveau zusteht.

Ein ausgebauter Sozialstaat also?

P.U.: Nein, im Endeffekt könnte eine solche Entwicklung sogar zu einer nachhaltigen Entlastung des Sozialstaats führen. Es kann volkswirtschaftlich doch nichts Teureres geben, als wenn wir einen wachsenden Teil der Menschen zwingen, unfreiwillig untätig zu sein.

Schütteln harte Ökonomen nicht den Kopf über ihre Ideen? Stehen Sie mit ihren Zukunfts-Modellen nicht völlig allein auf weiter Flur?

P.U.: Ich kenne keinen einzigen Vertreter der Schulökonomie, der für solche Gedanken offen wäre.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz beträgt 3,6%.

6,5% der Erwerbstätigen sind Working Poor (Leute, die mindestens 90% arbeiten und nicht genug zum Leben haben).

Heute kommen auf einen Rentner 4 Erwerbstätige. Um dieses Verhältnis aufrechtzuerhalten, müsste das Rentenalter bis 2030 auf 71 Jahre erhöht werden.

Bürgerliche und Wirtschaftsminister Couchepin wollen das Rentenalter auf 67 erhöhen.

Gemäss einer Isopublic-Studie sind fast 80% der Schweizer gegen eine Rentenalter-Erhöhung.

46% sind gegen höhere AHV-Beiträge.

75% der 50 – 65-Jährigen in der Schweiz sind erwerbstätig.
(Deutschland: 56%, Italien: 41%, Österreich: 46%, Frankreich: 53%)

Peter Ulrich wurde 1948 in Bern geboren.

Er studierte in Fribourg und Basel Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

1987 wurde er der erste Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen (HSG).

Seit 1989 leitet er das Institut für Wirtschaftsethik an der HSG.

1992-96 war er Mitglied des Executive Committee des European Business Ethics Network.

1997-2001 war Urlich Mitglied im Vorstand des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik.

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