Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wegweisung umstritten, aber rechtens

Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit kann ein Risiko darstellen – nicht nur für die Gesundheit. Keystone

Die Wegweisung "unerwünschter Gestalten" im Bahnhof Bern verstösst nicht gegen die Verfassung. Das hat das Bundesgericht entschieden.

Die “Lex Wasserfallen” erlaubt es der Berner Polizei, Personen wegzuweisen, welche die öffentliche Ordnung stören. Auch St. Gallen ist dem Berner Beispiel gefolgt.

28. November 2003: Dreizehn Personen sitzen im Bahnhof Bern zusammen, konsumieren Alkohol und machen kräftig Radau. Sie werfen leere Flaschen auf den Boden, das Gegröle wird immer lauter. Die Passanten sind empört, bis endlich die Polizei einschreitet.

Die Gruppe wird mit Polizeigewalt vom Bahnhofareal entfernt. Zudem wird den Personen verboten, sich wieder im Bahnhof zusammenzurotten und Alkohol zu konsumieren.

Dieses Vorgehen ermöglicht der Wegweisungsartikel im Berner Polizeigesetz. Doch dessen Anwendung ist umstritten. “Er ist nicht mit der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar”, sagt der Anwalt Daniele Jenni. Mit einem Rekurs brachte er den Wegweisungsartikel bis vor Bundesgericht.

Doch Jenni blitzte vor der höchsten Schweizer Rechtsinstanz ab. Die Richter entschieden, dass das öffentliche Interesse die aussergewöhnliche Massnahme rechtfertige. Der Lärm und das unzivile Verhalten der alkoholisierten Gruppe seien für die Benutzer des Bahnhofs unzumutbar gewesen.

Drogenabhängige und Alkoholiker im Visier

Weg gewiesen wurden die Randständigen auf Grundlage der so genannten “Lex Wasserfallen”. Das Gesetz trägt seinen Namen nach dem früheren Berner Polizeidirektor und heutigen Finanzdirektor Kurt Wasserfallen. Es ist seit 1998 in Kraft.

Artikel 29b erlaubt die Wegweisung von einem öffentlichen Ort, “wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Gruppe oder einzelne Personen, die einer Gruppe angehören, die öffentliche Ordnung stören oder bedrohen”. Solche Personen können mit einem Verbot belegt werden, während maximal drei Monaten eine bestimmte Zone zu betreten.

“Das Gesetz wird in fünf Zonen der Stadt angewendet”, sagt Franz Märki, Informationschef der Stadtpolizei Bern. Jedes Jahr würden einige Hundert Leute mit Wegweisung belegt.

St.Gallen imitiert Bern

Die Auswirkungen des Gesetzes sind in Bern offensichtlich. Die offene Drogenszene ist praktisch verschwunden. Doch das Vorgehen der Polizei wirft rechtsstaatliche Probleme auf.

Kritik kommt etwa aus St. Gallen, wo die Polizei seit 1. Januar 2006 nach dem Berner Modell vorgehen kann. Ein entsprechendes Gesetz wurde in einer Volksabstimmung im Juni 2005 gut geheissen.

“Die Kriterien für eine Wegweisung sind nicht klar und somit dem Gutdünken der Polizei überlassen”, moniert Harald Buchmann von der alternativen Jugendgruppe “Aktiv unzufrieden”. Die Sanktionen könnten ergriffen werden, bevor überhaupt jemand eine Tat begangen habe. Die Gruppe befürchtet, dass die Polizei massiv von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen wird.

“Die Wegweisung betrifft vor allem Ausländer, Drogenabhängige und andere Randständige”, sagt Buchmann. Doch es könnten auch Punks oder andere Personen betroffen sein, die einfach nicht den geläufigen Regeln dieser Gesellschaft entsprächen.

Weiterzug nach Strassburg?

Der Sprecher der Stadtpolizei St. Gallen, Ralph Hurni, hält diese Befürchtungen für übertrieben: “Wir schreiten aufgrund des Verhaltens von Personen ein, nicht wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe.”

Das Berner Polizeigesetz hat den Test vor Bundesgericht bestanden, doch es gab auch ein abweichendes Votum. Der Waadtländer Bundesrichter Jean Fonjallaz hat – im Gegensatz zu seinen Kollegen – die Wegweisung und das Zugangsverbot für bestimmte öffentliche Orte als “mittelalterliche Praktiken” kritisiert, die man einst auf Bettler und Randständige angewandt habe.

Der Anwalt Daniele Jenni, sieht das ähnlich. Er überlegt daher, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden.

swissinfo, Luigi Jorio
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Erstmals hatte sich am 17. Mai 2004 ein Gericht mit dem umstrittenen Wegweisungsartikel im Berner Polizeigesetz befasst.

Das Berner Verwaltungs-Gericht entschied damals, dass die Wegweisung von 18 Personen aus dem Bahnhofareal von Bern im Jahr 2003 nicht gegen die Bundesverfassung und auch nicht gegen die Europäische Menschenrechts-Konvention verstosse.

Den betroffenen Personen wurde nicht prinzipiell untersagt, den Bahnhof zu betreten. Aber ihnen wurde untersagt, sich zum gemeinsamen Alkholkonsum im Bahnhof zu treffen.

In einem zweiten, ähnlich gelagerten Fall wurde nun der Entscheid des Verwaltungsgerichts vor Bundesgericht angefochten. Doch das Bundesgericht wies die Beschwerde ab.

Ein umstrittener Artikel im Berner Polizeigesetz erlaubt es, Personen von öffentlichen Orten wegzuweisen und ihnen den Zugang zu verwehren. Der Artikel ist seit 1998 in Kraft.

In St.Gallen ist ein entsprechendes Gesetz seit 1.Januar 2006, in Winterthur (Kanton Zürich) seit September 2004 in Kraft.

In Genf kann eine entsprechende Massnahme nur bei Personen angewandt werden, die gegen das eidgenössische Betäubungsmittelgesetz verstossen oder einen Diebstahl begangen haben.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft