
Taiwans Kampf um die Wiederaufnahme in die WHO in Genf

Taiwans 87-jähriger Diplomat für öffentliche Gesundheit setzt sich seit Jahrzehnten für die Wiederaufnahme seines Lands in die WHO ein. Doch selbst nach der hervorragenden Reaktion der Insel auf die globale Coronavirus-Pandemie könnte der Kampf aufgrund des Widerstands Chinas nur noch schwieriger werden.
Als Wu Yung Tung im Jahr 1970 seine Koffer packte, war er voller Vorfreude. Als Absolvent einer medizinischen Hochschule im Süden Taiwans bereitete er sich auf eine neue Chance vor: ein sechsmonatiges medizinisches Praktikum in Japan, organisiert von der Weltgesundheits-Organisation (WHO). Das Praktikum war Teil jener Vorzüge, die Taiwan als Mitglied der WHO in jener Zeit genoss.
«Damals war mir die WHO sehr sympathisch», sagt Wu, der in einem marineblauen Anzug im Sitzungssaal der Taiwanese Medical Association (TMA) im Zentrum von Taipeh sitzt. Doch kurz nach dem Abschluss des Praktikums, nachdem er nach Taipeh zurückgekehrt war, änderte sich die Lage.
1948 war China, damals unter der Führung der nationalistischen Kuomintang-Partei, eines der Gründungsmitglieder der WHO. Als die Partei ein Jahr später die Macht an die Kommunistische Partei Chinas verlor und sich auf die Insel Taiwan zurückzog, schaffte die Kuomintang es zunächst, die Mitgliedschaft Taiwans in der Gesundheitsorganisation aufrecht zu erhalten.
1972 aber wurde Taipeh aus der Organisation ausgeschlossen. Dies schränkte die Arbeitsmöglichkeiten für Mediziner:innen wie Wu Yung Tung markant ein.

Wu hat eine glänzende Karriere hinter sich: Das taiwanesische Gesundheitsministerium zeichnete ihn für seine Verdienste in der medizinischen Diplomatie aus, er war Berater des taiwanesischen Präsidenten.
Nur die Zusammenarbeit mit der WHO, wie sie für hochrangige Mediziner:innen sonst üblich ist, wurde ihm während seiner gesamten Laufbahn verwehrt.
Taiwan hat seine Position in der WHO mit Sitz in Genf nie wieder zurückerhalten. Stattdessen hält China die Mitgliedschaft inne, das die Souveränität über die selbstverwaltete Insel beansprucht.
Bis heute stossen Taipehs Bemühungen um eine Wiederaufnahme in die WHO auf eine diplomatische Mauer. Dies, obwohl mit der Corona-Pandemie in den letzten Jahren die Dringlichkeit globaler Zusammenarbeit und des Austauschs von Fachwissen deutlicher wurde denn je.
«China betrachtet Taiwan nicht als eigenständigen Staat, sondern als Provinz Chinas», sagt Wen-Ti Sung, der regelmässig für den US-amerikanischen Think Tank Atlantic Council arbeitet.
«Die chinesische Führung will soweit es geht verhindern, dass Taiwan auf transnationaler Ebene angemessen vertreten ist.»
Das allerdings hat Wu, den ehemaligen Präsidenten der TMA, nicht davon abgehalten, mehr als zwei Jahrzehnte seines Lebens der «Wiedereintrittskampagne» Taiwans in die WHO zu widmen.
Für dieses Ziel reist der 87-Jährige bis heute regelmässig als einer der Sonderbotschafter Taiwans nach Genf – zuletzt vergangenen Mai während der 78. Weltgesundheits-Versammlung (WHA).
«Für die taiwanesische Öffentlichkeit und die Regierung ist es unfair, weder Beobachter noch Mitglied zu sein», sagt Wu gegenüber Swissinfo. «Ohne diese Chance verliert man Wissen und Zusammenarbeit.»

Die Auswirkungen
In Wus Jugend war Taiwan noch auf die medizinische Unterstützung der WHO angewiesen. «Taiwans Wirtschaft und Regierungssystem hatten damals noch keinen hohen Standard erreicht», sagt er.
«Die Hilfe der WHO war eine grosse Unterstützung, etwa in der Behandlung von Tuberkulose oder in der Familienplanung.»
Der Ausschluss machte es schwieriger für Taiwan, sich in dem zunehmend international vernetzten öffentlichen Gesundheitswesen zu engagieren. Programme wurden gestrichen und eine ganze Generation von Gesundheitsfachkräften konnte nur sehr eingeschränkt mit anderen internationalen Fachleuten zusammenzuarbeiten.
Die Kontroverse um Taiwans Ausschluss flammte zuletzt während der Zeit der Coronavirus-Pandemie wieder auf. Taiwanesische Regierungsmitglieder warfen der WHO vorExterner Link, ihnen den Zugang zu Informationen zu verweigern und damit die Sicherheit der Bevölkerung zu gefährden.
Sowohl die WHO als auch China wiesen diese Vorwürfe zurückExterner Link. Peking erklärte, Taiwan habe den erforderlichen Zugang und die notwendige Hilfe erhalten. Weder die WHO noch die chinesische Regierung antworteten auf die Anfrage von Swissinfo.
Regierungsmitglieder in Taipeh beklagten zudem, dass die Coronafälle in Taiwan und China nicht getrennt gezählt wurden. Dadurch würde der Eindruck vermittelt, dass die Fallzahlen in Taiwan höher seien als sie es tatsächlich waren.
«Taiwan kann helfen»
Die WHO habe es verpasst, vom Fachwissen Taiwans zu profitieren, kritisiert die Regierung in Taipeh. Gerade wenn es um die weltweit gelobte Reaktion des Landes auf die Corona-Pandemie geht.
Taiwan verzeichnete weniger Todesfälle pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner als die Nachbarländer Südkorea, Japan und die PhilippinenExterner Link – und schaffte es gleichzeitig, eine inselweite Ausgangssperre zu vermeiden.
Taiwans Gesundheitssystem zählt zu den besten der Welt. Im Bloomberg Health Care Efficiency IndexExterner Link belegte es 2020 den dritten Platz, was auch auf die Pandemiepolitik der Insel zurückzuführen ist.
Vor diesem Hintergrund startete die taiwanesische Regierung eine Kampagne. Unter dem Slogan «Taiwan Can Help» («Taiwan kann helfen») will sie zeigen, was sie als Vorreiterin im Bereich der öffentlichen Gesundheit leisten kann.
Bei einem Online-Forum des Ministeriums für Gesundheit und Soziales etwa, an dem Wu beteiligt war, erklärten taiwanesische Gesundheitsfachleute ihren ausländischen Kolleginnen und Kollegen, mit welchen Präventions- und Kontrollmassnahmen Taiwan die Corona-Pandemie in den Griff bekam.
Selbst die Tatsache, dass Taiwan eine Insel ist, sei hilfreich, um verschiedene Strategien zur Eindämmung der Pandemie zu testen, sagt Wu.
«Taiwan ist sehr repräsentativ für die öffentliche Gesundheit», sagt Wu. «Es eignet sich für Studien, weil es sehr isoliert ist.»
Zudem habe Taiwan nicht erst während der Coronavirus-Pandemie, sondern bereits mit dem SARS-Ausbruch im Jahr 2003Externer Link Fachwissen im Umgang mit solchen Notfällen aufgebaut, sagt Wu.
«Wir wissen, wie wir uns in Zukunft organisieren müssen, um mit bisher unbekannten Pandemien umgehen zu können», sagt Wu. Während des SARS-Ausbruchs leitete er die Taiwanese Medical AssociationExterner Link, eine öffentliche gemeinnützige Organisation, die lokale Ärzt:innen zusammenbringen soll.
Gleichzeitig nutzte Taiwan die Online-Plattform, um für eine Wiederaufnahme in die WHO zu werben. «Vor nur 30 Jahren brauchten wir die Hilfe der WHO. Jetzt sind wir erwachsen geworden», sagt Wu.
«Wir können einen Beitrag leisten und gleichzeitig wertvolle Informationen und Neuigkeiten von der WHO erhalten.»

Der nächste Schritt
Doch Taiwans Bestrebungen nach Anerkennung stehen vor hohen Hürden. China ist es in den letzten Jahren gelungen, einige der wenigen verbliebenen diplomatischen Verbündeten Taipehs, wie beispielsweise die Insel Nauru in Mikronesien, davon zu überzeugen, die Anerkennung der taiwanesischen Regierung aufzugebenExterner Link.
Taiwan hat darauf mit unkonventionellen Massnahmen reagiert, um die medizinische Fachwelt für sich zu gewinnen. Dazu gehörte etwa eine Werbekampagne mit einem Kleinbus, verziert mit dem berühmten taiwanesischen Bubble TeaExterner Link und Halbleitern, der durch die Strassen von Genf fährt.
Zudem hat Wu regelmässig neben der jährlichen WHO-Versammlung Symposien organisiert, um die Kompetenz der Insel im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu zeigen und andere Nationen davon zu überzeugen.
Dennoch ist die aktuelle Situation ein Rückschlag gegenüber dem Zeitraum von 2009 bis 2016: Damals hatte China Taiwan erlaubt, als Beobachter am Entscheidungsgremium der WHO, der Weltgesundheits-Versammlung (WHA), teilzunehmen. Dieser Status erfordert keine Anerkennung als souveräner Staat.
In jener Zeit regierte in Taipeh die Kuomintang-Partei, die Peking als chinafreundlicher ansieht als die damalige Opposition. Als die Kuomintang 2016 allerdings die Präsidentschaftswahlen verlor, blockierte China Taiwans Beobachterstatus erneut.
«China will das im Keim ersticken», sagt Sung vom Atlantic Council. Inzwischen sähe Peking selbst den Beobachterstatus als Tor zu einer stärkeren Präsenz Taiwans in Genf.
Weitere Enttäuschungen sind wahrscheinlich. «Der Beobachterstatus oder die Mitgliedschaft in diesen internationalen Organisationen erfordert die Zustimmung vieler bestehender Mitgliedstaaten», sagt Sung.
«Da diese oft chinafreundlich eingestellt sind und es nicht riskieren wollen, Peking zu verärgern, hat Taiwan Schwierigkeiten, Unterstützung zu erhalten.»
Im vergangenen Monat wurde ein Vorschlag zur Aufnahme Taiwans in die jährliche Versammlung der WHO von den Mitgliedstaaten abgelehntExterner Link.
Wu bleibt dennoch optimistisch. «Anfangs haben wir versucht, über medizinische Fachkräfte Einfluss auf die Regierungen zu nehmen», sagt er. «Jetzt wissen die meisten Länder meiner Meinung nach bereits, dass Taiwan wichtig ist.»
Das gesellschaftliche und internationale Umfeld sei sehr kompliziert, so Wu. «Aber wir müssen auf diese Weise einen Durchbruch erzielen.»
Editiert von Antony Barrett/vm, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/raf
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